Auschwitz
veranschaulichen die perfide Seite der nationalsozialistischen »Endlösung«: Das Morden fand nun nicht mehr in umfunktionierten Bauernhäusern statt, sondern in fabrikähnlichen Anlagen, die die Menschenvernichtung in industriellem Maßstab ermöglichten. In der Geschichte ist es immer wieder zu entfesselten Massakern an Frauen und Kindern gekommen, aber dies war etwas völlig Neues: die sorgfältige Errichtung von Anlagen, in denen Menschen kaltblütig und planmäßig getötet werden sollten. Der nüchterne, systematische Charakter dieses Tötungsprozesses findet seinen sichtbaren Ausdruck in den akkuraten roten Ziegelsteinmauern der Krematorien von Birkenau.
Die Krematorien in Auschwitz wurden freilich erst in Betrieb genommen, als die Massentötungen ihren Höhepunkt überschritten hatten. 1942 wurden rund 2,7 Millionen Juden ermordet (etwa 200 000 von ihnen in Auschwitz und 1,65 Millionen in den Lagern der »Aktion Reinhardt«; 850 000 weitere wurden von mobilen Exekutionskommandos im Osten erschossen); 1943 hingegen wurden insgesamt etwa 500 000 Juden umgebracht, ungefähr die Hälfte von ihnen in Auschwitz.
Dennoch spielte Auschwitz eine immer wichtigere Rolle für das nationalsozialistische Regime. Jahrelang hatte man sich nicht darüber einigen können, ob man die Arbeitskraft der Juden für das Reich nutzen oder sich der Juden lieber ganz entledigen sollte. Auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 unterbreitete Reinhard Heydrich einen Vorschlag, wie man diese beiden scheinbar unvereinbaren Ziele in Einklang bringen könne: Man müsse nur dafür sorgen, daß die Juden sich zu Tode arbeiteten. Doch vor allem, nachdem Himmler die Ermordung der Juden im Generalgouvernement angeordnet hatte, gerieten diese beiden Zielsetzungen in der Praxis immer wieder in Konflikt. Wie Leutnant Battel in Przemyśl erlebte, wurden nach wie vor arbeitsfähige Juden nach Bełżec in den Tod geschickt.
Im Frühjahr 1943 war Himmler klar, daß es im gesamten Reichsgebiet nur einen Ort gab, an dem sich die beiden Ziele Arbeit und Vernichtung perfekt vereinbaren ließen: Auschwitz. Damit wurden die neuen Tötungsanlagen in Birkenau zum Zentrum eines riesigen halbindustriellen Lagerkomplexes. Hier konnte man die selektierten Juden zunächst in eines der zahlreichen nahe gelegenen Nebenlager zum Arbeitseinsatz schicken, um sie einige Monate später, wenn sie halbtot geschunden waren, »auszusortieren« und in den nur wenige Kilometer entfernten Vernichtungsanlagen von Auschwitz-Birkenau umzubringen.
Nicht nur aus ideologischen, sondern auch aus praktischen Gründen bot Auschwitz für Himmlers Vorhaben ideale Voraussetzungen. Das Lagersystem versprach ein hohes Maß an Flexibilität: Je nach Arbeitskräftebedarf konnte man die Kriterien für die »Arbeitsfähigkeit« der Insassen beliebig variieren. Und was angesichts der Ereignisse in Warschau vielleicht noch wichtiger war: Die SS konnte innerhalb des Lagerkomplexes einen weit höheren Grad an Kontrolle gewährleisten, als es in den Ghettos möglich war.
Es gab 28 zu Auschwitz gehörende Nebenlager 4 , die sich in unmittelbarer Nähe verschiedenster, in ganz Oberschlesien verstreuter Industrieanlagen befanden: vom Zementwerk Golleschau [Goleszów] bis zur Rüstungsfabrik Eintrachthütte, vom Kraftwerk Energieversorgung Oberschlesien bis zu den Buna-Werken der I. G. Farben, für das man eigens das riesige Arbeitslager Monowitz [Monowice] eingerichtet hatte. Dort waren bis zu 10 000 Häftlinge untergebracht (unter ihnen der italienische Wissenschaftler und Schriftsteller Primo Levi, der nach dem Krieg in seinen Büchern die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes zu verarbeiten suchte). 1944 wurden über 40 000 Lagerhäftlinge 5 in den oberschlesischen Industriebetrieben als Zwangsarbeiter eingesetzt. Man schätzt, daß Auschwitz dem deutschen Reich einen Reingewinn von rund 30 Millionen Reichsmark 6 einbrachte, indem es Zwangsarbeit an Privatunternehmen verkaufte.
In den Nebenlagern herrschten oft ebenso menschenunwürdige Verhältnisse wie im Stammlager Auschwitz oder in Auschwitz-Birkenau. Besonders berüchtigt war das bei einem Kohlenbergwerk errichtete Lager Fürstengrube. Benjamin Jacobs 7 wurde im Frühherbst 1943 zum Arbeitseinsatz nach Fürstengrube geschickt, was normalerweise einem Todesurteil gleichkam. Die Lebenserwartung in den Kohlenbergwerken rings um Auschwitz ließ sich in Wochen bemessen. Doch Jacobs besaß Kenntnisse, die ihm das Leben retteten:
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