Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
M-Zigaretten. Soll’n sie doch mal sehen, was mittellose Pakethilfslageristen, die kostbare Lebenszeit damit vergeuden, Spam-Mails zu löschen, so wegrauchen müssen. Ich werfe das Päckchen in ihren herausfordernd aufgehaltenen Sack, sie bedanken sich, wie es sich gehört, und ich gehe wieder an den Computer.
Alle, löschen, go. Noch 2204. Wenn es noch mal klingelt, hätte ich noch ein paar Chinaböller vom letzten Silvester. Und von dem einen und anderen kleinen Kuemmerling könnte ich mich auch noch trennen. Go. Nein, halt, nicht go. Eine Nachricht von Gabi. Ich kenne keine Gabi. Betreff: »Ich will Dich!« Na ja, wer will das nicht? Ich klicke auf »Verschieben nach Posteingang«. Posteingang. Gabi schreibt: »Wir haben uns am 28.10. in Gütersloh kennengelernt. Du weißt doch noch. Ich bin blond, schlank, Anfang vierzig und hatte ein schwarzes Kostüm an. Demnächst bin ich in Berlin und würde dich gern wiedersehn. Melde Dich. Meine Hüften beben.« Gabi. Gütersloh. Ich war tatsächlich am 28. Oktober in Gütersloh. Ich habe in der Stadthalle einen Ball moderiert. Aber ich kenne keine Gabi. Ich war stocknüchtern, kann also keine Erinnerungslücken haben. Außerdem war Sabine mit. Aber ein Vorfall war da. In der Pause kam eine Gruppe von vier ziemlich angetrunkenen Frauen auf mich zu. Bildungsbürgertum, gut situiert, verwöhnt. Sie kreisten mich ein, eine zog mir an den Haaren, kicherte schrill und schrie: »Die sind ja echt! Ich dachte, das wär ’ne Perücke!« Dann guckte sie lasziv, ergriff mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger – es fühlte sich an, als wäre ich in eine Rohrzange geraten –, ruckte mein Gesicht in ihre Richtung und versuchte mich zu küssen. Ich konnte das verhindern, dachte kurz, ich hätte nun einen Fan verloren, was mich nicht weiter störte, aber dem ist offenbar nicht so. Gabi, vermutlich Gabriele, war tatsächlich blond und hatte ein schwarzes Kostüm an. Anfang vierzig war sie eher nicht. Anfang fünfzig würde ich schätzen. Das wäre mir egal, aber ich mag es nicht, an den Haaren gezogen und am Kinn gekniffen zu werden. Außerdem habe ich nicht vor, Ehebruch zu begehen. Schon gar nicht mit unausgelasteten Hausfrauen der oberen, aufstrebenden Mittelschicht in Gütersloh. Sie hat mich vermutlich gegoogelt. Das ist der Preis dafür, eine Heimseite zu haben.
Löschen.
Weiter bei gmx. Alle, löschen, go. Es klingelt schon wieder. Bitte nicht Gabi. Auf meiner Homepage steht zwar nicht meine Adresse, aber die Andreas Schefflers im Telefonbuch kann man schließlich auch abarbeiten, wenn man besessen ist und einem die Hüften beben. Da wären mir jetzt die Halloween-Zwerge aber hundertmal lieber. Ich stecke mir vorsorglich zwei Kuemmerling ein und gehe zur Tür. Vor mir steht Herr Osterheld aus dem Seitenflügel. Wie ich dazu komme, seinem Sohn ein Päckchen Zigaretten in den Sack zu schmeißen, will er wissen. Ich sage, dass die ja eigentlich für ihn gedacht gewesen seien; und außerdem hätte ich da noch ein Paket für ihn. Ach, sagt er, er hätte gar keinen Zettel im Briefkasten gehabt. »Na, dann ist ja jetzt alles gut«, sage ich und biete ihm einen Kuemmerling an. Er freut sich, wir trinken, und er zieht mit seinem großen leichten Paket aus der Schweiz, von dem ich bis heute nicht weiß, was drin war, wieder ab. Zwanzig Minuten später ist mein Spamverdachtordner endlich leer. Und meine Chinaböller bin ich auch noch losgeworden.
Im Dorf angekommen
31. Oktober 2008, Reformationstag, 23 Uhr 30. Mir fällt der Besen aus der Hand, Sabine wirft Handfeger und Dreckschippe in eine Ecke. Schnell den letzten Müll in die Tonnen auf dem Hof gestopft, im Schutz der Dunkelheit einen Computermonitor und zwei Lautsprecherboxen in den Hauseingang gestellt, im Schein der Taschenlampe die letzten Leuchten abgeschraubt, auf der Türschwelle zwei, drei Tränen vergossen, den fast leeren Bierkasten geschnappt, wegen innerer Aufgewühltheit und zu viel Wodka ein wenig Flüssigkeit in den Rinnstein erbrochen und dann ins Auto und weg. Sabine fährt. Heute vor 491 Jahren hat Luther in Wittenberg auf einigen Blättern Papiers wichtige Sätze ans Kirchentor genagelt. Das hat letzten Endes den 30-jährigen Krieg ausgelöst. Ich habe einen gelben Klebezettel mit den Worten »Die Schlüssel habe ich beim Nachbarn gegenüber hinterlegt.« an die Tür gepappt. Was das auslöst, ist noch nicht raus.
Reformationstag. Ja, auf Sabine und mich kommen Reformen zu. Erst mal von der Stadt ins Dorf. Was
Weitere Kostenlose Bücher