Ausdruckstanz ist keine Lösung: Geschichten
– einfach so –, dann hatte der Tag gut begonnen. Da wurde der Geschlechtsverkehr zwar gedanklich thematisiert, aber es ist nie dazu gekommen.
Jetzt betrete ich den U-Bahnhof Bernauer Straße und sehe alle mir Entgegenkommenden freundlich an. Zwei junge Männer bleiben stehen. Einer schreit mich an: »Hab ich Scheiße im Gesicht? Ey, Alter!« – Was soll ich dazu sagen? Ich gehe wortlos weiter. Der junge Türke, etwa siebzehn Jahre alt, bellt mir hinterher: »Ha? Hab ich Scheiße im Gesicht?« So, das war’s dann mit der guten Laune. Ich werde sauer, bleibe aber ruhig. »Nee, ich kann da nichts sehen. Aber ich würd’ mich nicht wundern, wenn da im Kopf ne Menge wäre.« Er wird ungehalten, hysterisch und fühlt sich religiös motiviert. »Scheiße im Kopf? Du hast Scheiße im Kopf, Alter!« Er kommt ein paar Schritte auf mich zu. Sein Kollege hält ihn am Arm. Ich sage nichts weiter und gehe den Bahnsteig entlang. Wenn er mir jetzt nachliefe und mir eins in die Fresse geben würde, glaube ich, hätte ich bei dem Poetry-Slam richtig gute Chancen. Mit herausgeschlagenen Zähnen eine Geschichte übers Saufen erzählen, ’ne kleine Vögelei könnte ich schnell noch reinschreiben, da würde ich glatt gewinnen. Aber der Jungtürke geht nicht zum Äußersten.
Beim Slam erzählt ein Kollege, wie er sich den ganzen Körper rasiert, dabei massenhaft Blut fließt, sich seine Brustwarzen »wie Spargelstangen« aufrichten, als er mit dem Rasiermesser an seine Eichel geht, wie sich das ganze orgiastisch auflöst. – Dagegen kann ich nicht anstinken. Ich habe nichts dagegen, Zweiter zu sein und von mir aus auch mal Dritter.
Man soll nicht Arschloch sagen
Das etwa fünf Jahre alte, zur Pummeligkeit neigende Kind am Nebentisch des Speiserestaurants hebt den Blick von seinem Teller mit Fischstäbchen und Pommes, nuckelt kurz an seiner Fanta, steht auf, posiert vor meiner Frau, die gerade mit ihrem Salat beschäftigt ist, und kräht: »Du bist aber dick!« Die Eltern, Anfang dreißig, reagieren nicht.
Sabine kaut zu Ende, schluckt herunter und sagt ruhig: »Ja, das bin ich wohl.« – »Warum?« –
»Weil ich gern esse.«
Das Kind überlegt im Rahmen seiner Möglichkeiten. Ich bin mit meinem Salat fertig, hole meine Zigaretten aus der Manteltasche am Garderobenständer und sage, dass ich mal eben vor der Tür eine rauchen werde.
»Du wirst sterben«, konstatiert das Kind.
»Du auch«, konstatiere ich zurück, »früher oder später.«
Das Kind fängt an zu weinen und stapft zu seiner Mutter. Gut.
Die Mutter lässt ein angekautes Radieschen aus ihrem Mund ploppen und schreit mich an: »Wie können Sie einem Kind so etwas sagen, Sie Arschloch!« – »Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Und das ›Arschloch‹ in Anwesenheit Ihres Kindes müssen Sie selbst verantworten. Ist es eigentlich ein Mädchen oder ein Junge? Sieht ein bisschen aus wie Dickie Hoppenstedt.« Ich gebe Sabine und dem Wirt ein Zeichen, dass ich jetzt echt mal eben vor die Tür gehe.
Gerade habe ich mir auf dem Bürgersteig eine angezündet, da kommt der Mann vom Nebentisch dazu. »Ich möchte mich für das ›Arschloch‹ von meiner Lebensgefährtin entschuldigen.«
»Wie bitte?«
»Was? Ach so. Ich meine, für ihre Äußerung. Tschuldigung noch mal. Haben Sie vielleicht ne Zigarette für mich?«
Ich gebe ihm eine Cabinet und Feuer, er inhaliert tief, wird augenblicklich bleich und lehnt sich an die Hausfassade. »Das ist meine erste seit fünf Jahren«, erklärt er.
»Warten Sie einen Moment«, sage ich, gehe schnell zum Tresen und lasse mir vom Wirt zwei kleine Kuemmerling geben. Draußen gebe ich dem Lebensgefährten einen, und wir stoßen an.
»Frank«, sagt er, »ich heiße Frank.«
»Andreas«, stelle ich mich vor. Wir kippen den Kräuter und sehen nach den Zahlen auf den Flaschenböden. Er hat 37, ich 94.
»Du musst zahlen«, sage ich. Er nickt, wir drücken unsere Zigaretten aus und gehen wieder hinein.
»Du stinkst nach Rauch«, sagt die Frau.
»Ja«, antwortet er lakonisch.
»Du wirst sterben«, schreit das Kind.
»Ja«, sagt Frank.
Die Frau lässt ihre Gabel fallen. »Wir hatten doch während der Schwangerschaft vereinbart, dass du aufhörst.«
»Hab ich ja auch«, sagt Frank.
Der Wirt bringt uns beiden einen Kuemmerling. Wir befinden uns in einer der Altberliner Gaststätten im Osten der Stadt, in denen man, wenn man einmal einen Schnaps bestellt hat, so lange in regelmäßigen Abständen einen neuen bekommt, bis man
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