Auserwaehlt
Damenhandtasche“, wiederholte die Dame stolz und versuchte, die leicht
gekrümmten Finger zu bewegen, als habe sie Schmerzen.
„Können Sie die Tasche beschreiben?“ Kranich nahm jetzt einen Kugelschreiber,
um Frau Osswald die Wichtigkeit ihrer Aussage zu demonstrieren.
„Es war dunkel.“ Mit plötzlich zittriger Hand versuchte Hildegard Osswald die
Tasse aufzunehmen. „Aber ich habe einen goldenen Griff gesehen. Die Tasche
hatte einen großen, runden, goldenen Henkel.“
„Haben Sie sonst noch etwas gesehen?“
Die Dame stutzte. „Wie meinen Sie das?“
„Außer der Handtasche und den Jugendlichen waren da noch andere Leute im Park?“
präzisierte Kranich ihre Frage.
Die alte Dame strich sich das schwarze Haar glatt.
Zu Claras Überraschung sagte sie dann: „Eine große, schwarze Gestalt. Als sie
vorüberging, hat sie sich abgewendet, als wollte sie nicht erkannt werden.“
Eine große, dunkle Gestalt? Clara nahm einen Keks mit Marmelade aus der Gebäckmischung und sah die alte
Dame an. Die große, dunkle Gestalt passte nicht zu der Geschichte mit den
Jugendlichen und der Handtasche. Clara ließ ihre Zunge über die glatte
Oberfläche der Marmelade gleiten. In der Regel war die große, dunkle Gestalt
eine „positive Halluzination“, wie Clara es nannte. Denn Clara glaubte, dass
Zeugen wie Hildegard Osswald die „große, dunkle Gestalt“ nicht erfanden, weil
sie die Polizei hinters Licht führen wollten, sondern in der positiven Absicht,
an der Aufklärung mithelfen zu wollen.
„Frau Osswald“, räusperte sich Clara schließlich. „Würden Sie die Männer, die
sich an der Tasche zu schaffen gemacht haben, wiedererkennen? Falls es zu einer
Gegenüberstellung kommt, meine ich.“
„Eine Gegenüberstellung?“
Clara nickte.
„Ganz sicher“, war sie überzeugt. „Die sitzen ja jeden Abend da rum, meist
schon ab acht, da müsste die Polizei wirklich mal etwas dagegen unternehmen, wo
soll das noch hinführen, ich meine, mit der U-Bahn kann man ja ohnehin nicht
mehr fahren, aber wenigstens die Erholungsgebiete sollten ...“
„Entschuldigung“, sagte Clara, als ihr Handy klingelte. Sie erhob sich und trat
ans Fenster.
„Wir haben sie“, hörte sie Leonhard Kirchner, Margots Sekretär, dessen Stimme
sich vor Aufregung überschlug. „Ihr Name ist Helga Kramer, sie ist 59 Jahre,
wohnhaft in Leipzig. Keine Vorstrafen.“
„Okay“, flüsterte Clara.
„Helga Kramer war Witwe, aus der Ehe entsprang eine Tochter, die Frau war
Musiklehrerin an einem Internat bei Leipzig.“
„Okay.“ Draußen liefen Beamte mit einem Spürhund vorbei.
„Ich habe in der Schule angerufen, Frau Kramer wollte ihre Tochter in Berlin
besuchen, hat man mir dort gesagt. Und jetzt pass mal auf.“ Es raschelte.
„Charlotte Kramer hat ihre Mutter bereits gestern Abend um 22 Uhr 26 als
vermisst gemeldet. Sie wohnt in der Eschenstraße in Friedenau.“ Leonhard
räusperte sich. „Ihr solltet da also vorbeischauen, bevor ihr nach Leipzig
fahrt.“
„Okay“, sagte Clara jetzt laut, drehte sich zu Margot um und nickte ihr zu. „Wir
haben sie.“
Margot verstand. Für einen Moment sahen sich die Ermittlerinnen triumphierend
an, als hätten sie die alte Dame vergessen. Es war immer ein besonderer
Augenblick, wenn eine unbekannte Leiche einen Namen bekam. Denn es war der
Schlüssel zu einer Geschichte, von der sie zuerst nur den traurigen Ausgang
kannten. Der Tod stand von Anfang an fest. Nur einmal die Chance zu bekommen,
in der Zeit zurückzureisen, um das Unglück zu verhindern, so wie in den
Fantasy-Serien, die Clara früher gesehen hatte, auch davon träumte sie.
4
Der schwarze Audi der Kriminalhauptkommissarin fuhr am
Schloss vorüber, wie sich das Einkaufscenter in Berlin Steglitz nannte. Es war
Samstagmorgen und die Menschen strömten bereits durch die goldene Drehtür ein
und aus, zwei Frauen lachten, voll beladen mit Tüten von H&M. Clara blickte
weg. Seit einer Ewigkeit war sie nicht mehr unbeschwert Einkaufen gewesen.
Genaugenommen seit drei Jahren. Seit Maria tot war. Seitdem bestellte sie ihre Kleider nachts im Netz, als Ausgleich nach einem
anstrengenden Tag, bevorzugt zwischen dreiundzwanzig und null Uhr ein heruntergesetztes
Designerkleid, das sich drei Tage später als Fehlkauf erwies. Doch allein die
Vorfreude, wenn Frau Kiontke aus der dritten Etage ihr das entgegengenommene
Päckchen überreichte, war es wert, das Risiko immer wieder einzugehen. Und wenn
sie dann mit einem der Kleider vor dem Spiegel stand,
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