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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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das sich als Hauptgewinn
entpuppte, wurde sie für Stunden von einem Gefühl der guten Hoffnung erfüllt.
„Verdammt.“ Clara schlug gegen das Lenkrad. „Was ist das denn wieder für eine
Schikane?“
Sie deutete auf die Löcher in der Fahrbahn, bremste ab und setzte den Blinker,
um in die rechte Spur einzufädeln. Drei Baustellen in Folge ließen den Verkehr
erlahmen.
„Nur mit der Ruhe“, murmelte Kranich und sah zum Fenster hinaus.
Nur mit der Ruhe? Besorgt betrachtete Clara Kranichs Profil. Es war scharf wie das eines
Adlers. Vor drei Wochen hatten sie an der Schaubühne ermittelt, einem Theater
am Kurfürstendamm, als plötzlich einer der Regisseure eintrat und erstaunt innehielt.
Sie sehe aus wie Dante, meinte er, der Dichter. Später hatte Kranich ein Bild
des Dichters auf ihrem Computer aufgerufen und den Kopf geschüttelt. Keinerlei
Ähnlichkeit, meinte sie. Doch Clara wusste, was der Theatermann gemeint hatte:
Der strenge, unerbittliche Ausdruck war derselbe.
„Alles okay, Margot?“
Kranich hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Sie sagte nichts.
Im Schritttempo arbeiteten sie sich die Schlossstraße hinauf. Wenn Kranich sich
nicht wie gewohnt in die Arbeit stürzen würde, hätte Clara auf ein Burn-out
getippt.
„Um halb acht hat die Tochter ihre Mutter erwartet“, hörte sie Kranich
schließlich. „Kurz nach zehn hat sie bereits eine Vermisstenanzeige aufgegeben.
Findest du das nicht zu früh?“
„Eigentlich nicht.“ Clara lenkte den Audi über den Walter-Schreiber-Platz in
die Bundesallee. „Selbst wenn, das sagt doch nur, dass die Tochter einfach besorgt
ist.“
Fürsorge war Kranich per se suspekt. Für Clara war das ein weiterer Hinweis
darauf, dass sie mit ihrer Kindheits-Theorie richtig lag.
Sie bogen in ein Wohngebiet mit prächtigen Altbaufassaden und zugeparkten
Straßen, Clara musste mehrfach rechts ranfahren, um entgegenkommende Fahrzeuge
durchzulassen.
„Ich hasse das“, sagte Kranich und Clara wusste, dass sie nicht die verstopften
Straßen, sondern die Aufgabe meinte, die ihnen bevorstand. Todesnachrichten zu
überbringen war mit das Schlimmste an ihrer Arbeit. Es gab Schulungen, die
einen darauf vorbereiten sollten, doch darauf konnte man sich nicht vorbereiten.
Die Leute zerbrachen und immer zerbrach auch ein Stück in einem selbst.
Die Sonne schien, als die Kommissarinnen ausstiegen. Vor ihnen lag ein vierstöckiger
Altbau mit einer beeindruckenden Art-déco-Fassade. Der Audi parkte vor einem
Tor mit der Aufschrift „Ausfahrt freihalten“.
Clara drückte den Klingelknopf, er war der aufgerissene Mund einer vergoldete
Medusa.
„Landeskriminalpolizei“, sagte Clara sanft. Meistens übernahm sie das. „Dürfen
wir hochkommen?“
Die Tür summte. In dem holzvertäfelten Flur war es dunkel, es roch nach Essen,
die Holztreppen knarrten bei jedem Schritt.
Die Frau in der Türschwelle hielt ein Baby im Arm. In ihren Augen stand Panik.
„Was ist mit meiner Mutter?“, fragte sie leise.
„Dürfen wir eintreten?“ Clara lächelte dem Baby zu.
Die Frau hatte ein vor Müdigkeit aufgequollenes Gesicht, eine Strickweste über
einem T-Shirt und keine Frisur. Clara konnte keinerlei Ähnlichkeit mit Helga
Kramer entdecken. Die Frau führte sie in ein Zimmer mit hoher Decke, antiken
Holzmöbeln und einem modernen Sofa. Mitten im Raum blieb sie stehen. Das Baby
schaute.
„Was ist mit meiner Mutter?“ wiederholte sie.
„Sind Sie Charlotte Kramer?“
Sie nickte.
„Ist ihr Mann auch da? Sollen wir ihn ...“
„Bitte. Sagen Sie mir, was los ist!“ Sie wechselt den Arm, auf dem das Baby
saß.
Clara gab sich einen Ruck. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter
...“
„Nein“, sagte Charlotte Kramer und schüttelte den Kopf. Das Baby fing an zu
schreien.
„Sie wurde heute Morgen im Stadtpark Steglitz gefunden“, fuhr Clara fort. „Sie
ist tot.“
„Nein“, sagte sie wieder. Ihre Augen waren aufgerissen.
„Ist ihr Mann nicht ...?“
„Nein“, wiederholte sie. Ihr Mund zitterte. Sie streckte die Arme mit dem Baby
aus.
Unschlüssig ging Clara auf sie zu. Als die Frau zusammensackte, konnte sie das
Baby im letzten Moment fassen, bevor es auf den Boden knallte. Die Schreie des
Kindes drangen durch den Raum.
    Vierzig Minuten später saß Charlotte Kramer auf dem Sofa,
eine Decke über den Schultern, da ihr trotz der 26 Grad, die das Thermometer
mittlerweile anzeigte, kalt war. Durch das weiße Doppelfenster zeichnete die
Sonne zwei helle Rechtecke auf das Parkett.

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