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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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Leiche noch mal sehen?“
Als habe jemand das Licht ausgeknipst, stürzte das Gesicht der Tochter wieder
zusammen.
„Frau Kramer“, sagte Kranich. „Wir haben keine Handtasche gefunden, kein
Portemonnaie, keine Papiere. Das heißt, die Handtasche ihrer Mutter wurde
wahrscheinlich geklaut. Können Sie beschreiben, wie die aussah?“
„Es war eine schwarze Ledertasche mit feinen, kaum sichtbaren Stickereien, ein
Glücksdrache. Die Griffe waren aus Gold, natürlich keine echtes. Ich habe sie
ihr zu Weihnachten geschenkt.“ Die Erinnerung malte ein Lächeln in ihr Gesicht.
„Das Portemonnaie war aus braunem Leder, schlicht, so eins zum Aufklappen.“ Sie
klappte ihre Hände auf und zu.
„Eine schwarze Ledertasche mit goldenem Griff?“
Kranich fiel das Aufnahmegerät auf den Boden.
„Danke, das hilft uns sehr“, sagte sie und hörte, wie Clara im Flur immer noch
telefonierte.
„Hat sich ihre Mutter in letzter Zeit irgendwie auffällig verhalten? Hatte sie
Feinde?“
„Feinde?“
„Jemand, der sie bedroht hat?“
„Bedroht?“ Charlottes Kopf ging hin und her, als wollte sie die Frage verneinen,
doch etwas hielt sie zurück.
„Ich weiß nicht“, sagte sie dann. „Aber mein Baby. Ich muss mein Baby holen.“
Der Psychologe nickte. „Ihr Baby ist bei Ursula Gebauer, ihrer Nachbarin“,
erinnerte er sie, als könnte sie das vergessen haben.
„Ich denke, das reicht für heute“, wandte er sich jetzt an die Hauptkommissarin.
Kranich nickte.
„Mein Baby“, rief sie wieder.
„Wir gehen jetzt gemeinsam rüber“, sagte der Mann und erhob sich. „Ich möchte
Ihnen auch noch mal raten, heute Nacht nicht alleine zu bleiben. Haben Sie
wirklich niemand, der zu ihnen kommen kann?“
Charlotte Kramer starrte vor sich hin. Sie war alleinerziehend und wollte
nicht, dass man irgendjemanden benachrichtigte. Plötzlich stand sie auf, die
Decke über ihren Schultern fiel zu Boden, sie bewegte sich langsam auf den
Sekretär zu und öffnete eine Schublade.
Der Psychologe und Kranich folgten ihr besorgt.
„Hier.“ Sie reichte der Hauptkommissarin einen Stapel Briefe. Es waren
Glückwunschkarten zur Geburt des Babys.
„Danke.“ Kranich sah fragend in die leeren Augen der Frau.
Charlotte Kramer zog eine Karte heraus. Kranich starrte auf den schwarzen Rahmen.
Ein Kreuz war darauf. Sie schluckte.
„Möge ihr Kind nicht so enden wie unseres“, hatte jemand in verzerrter Handschrift
darunter geschrieben.

5
    Der schwarze Audi parkte vor dem Landeskriminalamt 1 in der
Keithstraße in Charlottenburg. Kranich und Clara stiegen aus und betraten die
Burg durch den Haupteingang. Die Gründe, warum das LKA 1 „die Burg“ genannt
wurde, waren offensichtlich: Vor den Fenstern waren Gitter angebracht, große
Teile der Fassade waren nicht verputzt, sondern in einer ursprünglichen
Stein-auf-Stein-Optik gestaltet. Das Gebäude glich einer mittelalterlichen
Festung. Es war genau der richtige Ort für Margot, fand Clara. Nur der Kobold,
der über dem Eingang wachte, passte mit seinem nackten Hintern nicht recht ins
Bild. Schweigend durchquerten Kranich und Clara die Eingangshalle. Ein paar Besucher
hoben die Köpfe, als das ungleiche Paar über die massive Treppe nach oben
verschwand.
„Kaffee?“ begrüßte sie Leonhard Kirchner.
Kranich und Clara nickten dankbar, während Leonhard die Tassen füllte, für
Clara mit viel Milch, für Kranich schwarz.
„Gibt's schon was Neues?“, wollte Kranich wissen.
Leonhard kam mit den Tassen, setzte sich mit an den Tisch und runzelte die
Stirn, als habe er keine guten Nachrichten. „Leider noch nichts.“
Bei Leonhard liefen die Fäden zusammen. Ein gutes Verhältnis zu Leonhard war
Gold wert, das wusste niemand so gut wie Clara. Sie gehörte stets zu den
Ersten, die von ihm mit Informationen versorgt wurden. Sie lächelte ihm zu.
Obwohl Leonhard schon lange hier war, erzählten die älteren Kommissare noch
manchmal von Frau Eder, der Sekretärin, die die Stelle zuvor 25 Jahre besetzt
gehalten hatte. Frau Eder war die gute Seele des LKAs und man legte zu ihrem
Geburtstag noch immer für einen Blumenstrauß zusammen. Demnach musste es für
Leonhard hier anfangs nicht immer leicht gewesen sein, vermutete Clara, doch
mittlerweile wurde er von allen, auch von den Älteren, für seine ruhige und
effiziente Art geschätzt.
„Nur Claudia von Lehndorff hat angerufen und bestätigt, dass sie den Fall
übernimmt“, sagte er.
Die Hauptkommissarin nahm das zufrieden zur Kenntnis. Claudia von Lehndorff

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