Auserwaehlt
hatte Clara vergessen.
Das Ticken der Kaminuhr wurde lauter.
Das schlechte Gewissen war das eine. Doch es gefiel Clara nicht, wie
Christine Berger ihre Freundin pathologisierte, nur um sich selbst zu
entlasten.
„Die Stasi hat viele Künstler überwacht“, fing Clara wieder damit an. „Oder
hatte Helga Kramer auch nach 1989 noch das Gefühl, der Geheimdienst überwache
sie? Der BND vielleicht? Oder die CIA?“
„Um Himmels Willen, nein“, sagte Christine Berger leise.
Warum sagst du das dann? Clara rückte von der Frau ab. „Helga Kramer hat also Zettel gefunden, von
denen sie dachte, sie kämen von ihrem toten Mann, verstehe ich das richtig?“
Christine sah sie ausdruckslos an.
„Sie sagten etwas von einer Botschaft. Welche Botschaft?“
„Ich bin auserwählt.“
„Ich bin auserwählt?“ wiederholte Kranich die kaum hörbaren Worte der Lehrerin.
„Also keine explizite Morddrohung wie 'Ich töte dich?'“
„Nein.“ Christine wagte nicht, Kranich anzusehen. „Natürlich nicht. Ich meine,
dann hätte ich ja reagiert und die Polizei ...“
Die Kaminuhr tickte. Clara überlegte, sie auszuschalten.
„Aber gestern fand Helga Kramer den Zettel in ihrem Laptop, habe ich Sie da
richtig verstanden?“, fragte sie stattdessen.
„Keinen Zettel.“ Christine Berger wirkte erschöpft. „Helga klang so konfus, ich
meine, mit Sicherheit kann ich es nicht sagen, aber ich habe sie so verstanden,
als habe ihr jemand eine Mail geschickt oder eine CD gegeben ... Es sei in ihrem Computer, sagte sie, glaube ich. Ich meine, ich habe nicht weiter
nachgefragt, ich dachte ja, sie bilde sich das wieder einmal ... ein.“
„So wie den Einbruch vor zwei Monaten?“ Das war Kranich.
Christine Berger war irgendwo. „Anfangs habe ich tatsächlich geglaubt, dass ...
aber wenn sogar die Polizei sagt, dass ...“
Paschke wechselte das Standbein. Er war klein und zäh und sah aus, als laufe er
Marathon. Er hatte sie bereits darüber informiert, dass bei dem vermeintlichen
Einbruch keine Spuren gefunden werden konnten.
„Ich dachte wirklich, Helga sei einfach mit den Nerven fertig. Die Zettel sind
doch nur ein harmloser Kinderscherz.“ Schlafwandlerisch erhob sich Christine
Berger und ging auf das Bücherregal zu. „Helga unterrichtet ihre Schüler ja
auch zu Hause, das sind kleine Genies, müssen Sie wissen, doch sie sind eben
auch ... Kinder.“ Sie lächelte zerstreut. „Und Kinder machen so etwas, sie
meinen das gar nicht böse, sie denken meist gar nicht darüber nach.“
„Kennen Sie das?“ Christine Berger ging am Bücherregal auf und ab. Sie hielt
ihre Hand zwischen die Bretter, als halte ein Kind im Vorübergehen ein Stöckchen
in den Lattenzaun. „Das mit den Zetteln war doch nur ein Schülerstreich, was
sollte es denn sonst sein?“
Obwohl sie langsam ging, lag eine Kraft in ihrer Bewegung, die Clara überraschte.
„Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen.“ Christine war am Flügel stehen geblieben
und blickte sie jetzt an. Zum ersten Mal war zu erahnen, dass sie regelmäßig
vor einer Klasse stand. „Helga war ja in Psychotherapie. Ich habe sie mal
begleitet und da äußerte der Therapeut mir gegenüber die Befürchtung, also ...“
Sie berührte den Flügel.
„Helga litt wahrscheinlich an einer beginnenden Paranoia.“
Clara spürte Margots Blick. Margot wusste, dass Clara seit der Geschichte mit
Maria allergisch auf Therapeuten reagierte. Was Margot nicht wusste, war, dass
Clara seitdem selbst zu einem ging, auch wenn sie seit Wochen nicht mehr dort
war.
„Eine beginnende Paranoia also“, wiederholte Clara.
Der Therapeut würde ihnen erzählen, dass Paranoide krank waren. Er würde ihnen
erzählen, mit einem bedauernden Kopfnicken, dass auch Helga Kramer krank
gewesen war, dass auch sie das Gefühl gehabt hatte, verfolgt zu werden. Er
würde ihnen erzählen, dass Paranoide grundsätzlich engen Freunden und Familienangehörigen
misstrauten, weil sie dachten, sie wollten ihnen schädigen oder sie betrügen.
Weil sie dachten, sie wollten sie töten.
Margot öffnete ein Fenster.
Doch Helga Kramer war tot. Sie war verfolgt und getötet worden.
Vielleicht waren es enge Freunde gewesen, die ihr mit diesen Zetteln
Angst gemacht hatten?
„Warum haben Sie die Ängste ihrer Freundin nicht ernst genommen?“, formulierte
Kranich die Frage, die Clara auf der Zunge lag.
Christine Berger reagierte nicht.
„Frau Berger?“
„Ach so“, sie hatte es gehört.
„Wegen Gregor natürlich“, sagte sie. „Helga meinte ja,
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