Auserwaehlt
Vernehmungen
die Knackpunkte seien, an denen man ansetzten musste. Denn sie seien Hinweise
darauf, dass der Befragte log. Doch Clara war noch nie einem Menschen begegnet,
der sich nicht widersprochen hätte und sie weigerte sich, den Schluss daraus zu
ziehen, dass alle Menschen logen.
Wir waren nur sein Publikum ... man war eine Welt für ihn ...
Oder war das gar kein Widerspruch?
„Die beiden waren ein so schönes Paar!“ Als Clara wieder hinsah, lächelte
Christine Berger den Kunstdruck an der Wand an. Es war der verhüllte Reichstag
von Christo und Jeanne-Claude. „Beide hatten diese Augen, so voller Sehnsucht
und ... pechschwarze Haare und diesen Ausdruck ... irgendwie voller Lebensgier
und, wie soll ich sagen, Todesverachtung ...“
Christine Berger verstummte abermals. Sie tastete mit den Fingerspitzen so
behutsam über den Lack, als versuche sie, Blindenschrift zu lesen.
„Als Gregor noch jung war, da fiel das nicht so auf. Aber als er älter wurde,
wurde es von Jahr zu Jahr schlimmer. Ich weiß nicht, was er dachte, was das
Leben für ihn bereithalten würde, ein umjubelter Pianist, Generalsekretär,
Fernsehstar, ja, so etwas ...“ Sie lachte unnatürlich. „Er konnte es natürlich
nicht ertragen, dass Helga erfolgreich war, dass sie dauernd auf Konzerte eingeladen
wurde, dass sie die Preise bekam, die er gerne gehabt hätte.“
Ihr Gesicht schien einen Schmerz zu erinnern. „Anfangs versuchte Helga noch,
auszugleichen, was längst aus dem Gleichgewicht geraten war: Er sei der
eigentliche Künstler, das Genie, versicherte sie ihm, damit er sich besser fühlte.
Damit er sie nicht schlug.“ Christine Berger lachte wieder. „In den Jahren vor
seinem Tod hielt er sich dann abwechselnd für die Reinkarnation von Robert
Schumann, irgendeines Gottes oder Propheten und sagte immer, wenn man ihm
begegnete, er müsse jetzt los, er müsse die Menschheit erlösen.“
Ihr Lachen wurde bitter. „Von sich selbst, ja. Das hat er am Ende glücklicherweise
auch getan.“
Die Berger bewegte sich um den Flügel. Niemand sagte etwas.
„Die Wochen vor seinem Unfall waren besonders schlimm. Wir haben uns damals auf
Knauthain orientiert, wir wollten etwas aufbauen, etwas wirklich Großes.“ Sie
fuhr mit der Hand über den geschlossenen Klavierdeckel. „Es sollte ein großes
Fest werden, der Bildungsminister hatte sich angekündigt, wir waren den ganzen
Morgen damit beschäftigt, das Gelände herzurichten.“ Obwohl sie auf Parkett
ging, konnte Clara ihre Schritte nicht hören, so leise trat sie auf. „Und
plötzlich tauchte Gregor auf, alles war mit Rosen geschmückt, überall waren
weiße Zelte aufgebaut ...“ Sie nickte. „Der Kontrast muss ihm einen Schock
versetzt haben.“
„Ich sehe noch genau vor mir, wie Gregor auf das Gelände stürmte, uns alle als
Wendehälse beschimpfte, sich in das Auto setzte und davonfuhr. Norbert hat ihm
noch hinterher gerufen, er solle aufpassen.“
„Denken Sie, es war Selbstmord?“ Clara sprach leise.
Die Berger zuckte mit den Achseln. „Vielleicht war er auch einfach nur besoffen.“
„Als Gregor Kramer in das Unfallauto stieg, war er also betrunken?“ hakte
Kranich nach.
Keine Antwort.
Christine Berger wiegte sich im Stehen hin und her.
„Helga hatte immer Angst, er könnte sich an ihr rächen“, sagte sie und hielt in
ihrer Bewegung inne.
Kranich fixierte die Frau. „Rächen? Wofür?“
Christine Berger fuhr mit dem Fuß über das Parkett, als wollte sie einen Kaugummi
entfernen. „Für alles.“
Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Die vergoldete Kaminuhr tickte.
Clara und Kranich tauschten einen Blick.
„Helga ist tot“, hörte Clara die Lehrerin wieder. Ihre Stimme klang jetzt, als
habe sie es akzeptiert. „Ich verstehe einfach nicht, wie es soweit kommen
konnte ... Warum gibt es nur solche Leute, die immer alles zerstören müssen?“
Verloren stand sie da.
„Ich habe Helga von Anfang an zu Norbert geraten, aber sie stand ja auf die
Künstlertypen, je selbstzerstörerischer, desto besser, als habe Gewalt etwas
mit Romantik zu tun, je älter ich werde, desto mehr regt mich das auf, warum
ist die Jugend nur so blind?“
„Natürlich!“ Plötzlich fuhr Kranich auf.
Alle sahen sie fragend an. Sie legte den Kopf schief und setzte sich wieder.
„Die Schiefstellung des Halses hat nichts mit dem Mord zu tun.“ Kranich machte
ein zufriedenes Gesicht, als habe sie seit heute Morgen darüber nachgedacht.
„Sie kommt vom jahrelangen
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