Auserwaehlt
Viertel, den Geist einer jahrhundertealten
Bürgerlichkeit. Clara warf einen Blick ins Wohnzimmer. Das Sofa war weiß und
modern, der Sekretär in der Ecke antik, die Bücherregale durchgebogen. In der
Mitte stand ein schwarzer Flügel. Das Wohnzimmer ging ins Esszimmer über, das
Esszimmer in die Küche, alles wirkte zeitlos, klassisch. Nichts erinnerte an
die DDR. Mitte der 90er war Helga Kramer in die 3,5-Zimmer-Wohnung eingezogen.
Jetzt knarrten die Schritte der Kriminalpolizei auf den Dielen im Flur.
„Was war das?“ Kranich drehte sich um.
Der dumpfe Knall war vom Ende des Gangs gekommen. Clara zückte ihre Waffe und
ging auf die kleine, weiße Holztür ohne Fenster zu. Der Leipziger Kollege tat
es ihr gleich.
„Kriminalpolizei. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.“
Wieder das Geräusch. Es war eindeutig jemand in dem Raum. Auch Kranich zog
jetzt ihre Waffe.
„Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus“, wiederholte Clara.
Die Tür öffnete sich langsam.
„Nein, nicht“, wimmerte jemand. Es war eine Frau. Sie hielt die Arme nach oben
und die Augen geschlossen. Sie zitterte am ganzen Leib.
Alle ließen die Waffe sinken. Ihr Körper wirkte, als fehlten ihm die Knochen.
Sie mochte Mitte fünfzig sein, vielleicht auch älter.
„Öffnen Sie die Augen“, sagte Clara beinahe zärtlich. „Ihnen passiert nichts“,
versicherte sie.
„Wer sind Sie?“ Kranich berührte die Frau, um sie aus ihrer Starre zu erlösen.
„Christine“, stieß sie hervor. „Christine Berger.“
Ihre Augen flatterten zwischen den gezückten Dienstausweisen hin und her. Als
sie verstand, dass sie es mit der Polizei zu tun hatte, nahm sie die Arme
herunter.
„Ich habe einen Schlüssel zu Helgas Wohnung“, sagte sie noch immer außer sich,
als sie im Wohnzimmer saßen. Denn Helga sei, hatte sie zuvor erklärt, „ihre
beste und älteste Freundin“.
Gewesen, fügte Clara in Gedanken hinzu, Helga war ihre beste Freundin gewesen.
Es dauerte immer, bis die Leute sich an die Vergangenheitsform gewöhnten.
War, war gewesen, ist gewesen, tot. Clara betrachtete die Frau voller Mitleid. Man konnte sehen, fand Clara,
dass sie Freundinnen gewesen waren. Die beiden hatten einen ähnlichen Stil.
Allerdings sah es aus, als habe Helga Kramer ihn perfekt beherrscht, wahrscheinlich
sogar vorgegeben, während Christine Berger ihn mit der Zeit einfach übernommen
hatte. Wie Helga Kramer trug sie eine weiße Bluse zu einer dunklen Stoffhose.
Die Haare hatte sie ebenfalls hochgesteckt. Doch selbst nach der Mordnacht war
bei Helga Kramer noch die perfekt gesteckte Banane zu erahnen gewesen.
Christine Berger hingegen hatte die Haare mit einem einfachen Gummiband
eingeschlagen. Helga Kramer kultivierte ihre grauen Haare. Christine Berger
hingegen färbte sie schwarz; am Mittelscheitel klaffte der Ansatz. Und anders
als Helga Kramer, die von Natur aus große, dunkle Augen gehabt hatte, waren die
Augen von Christine klein und verwaschen. Mit Kajal hatte sie versucht, das
auszugleichen.
„Als ich erfahren habe, dass Helga tot ist, also ich kann das einfach noch
nicht fassen, da wollte ich mich vergewissern, ich meine, ich musste sehen, ob
sie auch wirklich nicht ... zu Hause ist. Und dann habe ich plötzlich Schritte
im Treppenhaus gehört, und wie sich jemand an der Tür zu schaffen gemacht hat,
und weil Helga ja ...“
Sie sah auf ihre Hände, dann auf Clara. „Also da habe ich mich in der Toilette
eingeschlossen.“
Clara nickte. Christine Berger unterrichtete neben Mathematik ebenfalls Musik
am Internat Schloss Knauthain, allerdings sei sie „für alle da“, damit Helga
sich ganz auf die „musikalisch Hochbegabten“ konzentrieren könne. Sie habe
Helga nie darum beneidet, hatte sie noch hinzugefügt, und dass ihr ihre Arbeit
mit den „Normalen“ immer Spaß gemacht habe.
„Ich kann das einfach nicht glauben“, murmelte sie.
Clara saß neben der Frau auf dem Sofa, Kranich gegenüber auf dem Klavierhocker,
der Mann aus Leipzig stand im Türrahmen. Niemand stellte eine Zwischenfrage, um
Christine Berger zum Weiterreden zu animieren, doch die schien jetzt irgendwo
festzustecken. Sie drehte ihr Gesicht von Clara weg, dem Flügel zu. Während bei
Helga Kramer alles nach Ausdruck drängte, selbst der Bogen ihrer Augenbrauen,
war Christine Berger nicht so leicht zu fassen. Ihr Gesicht entglitt einem,
kaum dass man es nicht mehr ansah. Nur der kleine, herzförmige Leberfleck im
rechten Augenwinkel blieb in Erinnerung. Im Vergleich zu ihrer Freundin
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