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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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spät“, nickte der Mann und schloss die Augen.
Claras Blick ruhte auf der Küchenmaschine aus Edelstahl. Es war ein Entsafter.
„Adrian war ein Wunderkind“, fuhr der Mann mit geschlossenen Augen fort. Er
sprach, als wollte er sich dafür entschuldigen. Seine Frau zog ihre Hand
zurück. „Mit zwölf, dreizehn hat er so gut wie jeden Wettbewerb gewonnen, alle
haben ihm eine große Zukunft vorhergesagt.“
„Kurz und gut“, er öffnete die Augen. „Auf dem Konservatorium in München war er
am Ende nur noch einer von vielen. Von Jahr zu Jahr kam er damit weniger
zurecht.“
Kranich nickte. „Aber warum wollten sie gegen Frau Kramer klagen?“
„Adrian hatte das Gefühl, die Welt um ihn herum werde immer enger, als rückten
die Wände immer näher, die er früher für den Himmel hielt.“ Flüchtig blickte
der Vater aus dem Fenster. „Er halte das nicht mehr aus.“
„Hat Adrian das gesagt?“
„Es stand in seinem Tagebuch.“ Der Mann senkte den Blick, als schäme er sich.
„Dort stand auch, dass er sich in seiner Verzweiflung Helga Kramer anvertraut
hat.“
Und nicht Euch. Clara wartete.
„Sie hat ihn in den Selbstmord getrieben“, sagte die Frau plötzlich. Dann betrachtete
sie erschrocken ihre Hände.
„Warum?“ Clara betrachtet die Hände der Frau.
„Wenn du das nicht aushältst, darfst du nicht älter werden“, sagt der Mann mit
dem Vollbart. „Das hat sie gesagt. Die Hexe.“
Clara biss sich auf die Lippen. „Das steht auch in dem Tagebuch?“
Der Mann nickte.
„Wissen Sie, was ich nicht verstehe?“ Im Unterschied zu Clara war aus Kranichs
Stimme kein Mitleid für die Eltern herauszuhören. „Warum wollen sie
ausgerechnet jetzt, nach drei Jahren, klagen? Und ausgerechnet an dem Abend, an
dem Helga Kramer ermordet wird, sitzen sie hier mit Norbert Lechmeier und
stecken die Köpfe zusammen. Da stimmt doch was nicht. Ihre Märtyrerrolle kauft
ihnen doch keiner ab.“
Clara biss sich auf die Zunge, um die Spannung auszuhalten.
„Ist Frau Kramer denn wirklich ermordet worden?“, fragte der Mann erstaunlich
ruhig. Entweder hatte er seine Gefühle extrem gut im Griff oder er fühlte
nichts mehr. „Wie genau?“
„Sagen Sie es uns“, entgegnete Kranich.
Schweigen.
„Frau Schweizer.“ Clara suchte den Blick der verwelkten Frau. „Haben Sie
Charlotte Kramer die Beileidskarte zur Geburt ihres Babys geschickt?“
Die Frau krümmte sich und schob die Hand ihres Mannes, die nach ihr greifen
wollte, fort.
„Schon als ich die Karte eingeworfen habe, habe ich es bereut“, sagte sie tonlos,
stand auf und sah Clara flehend an. „Kann ich mal kurz auf Toilette gehen?“
Der Mann griff nach ihr, hielt sie am Handgelenk fest.
„Aber bitte, gehen Sie doch!“, schrie Clara. Sie ertrug das nicht mehr.
„Herr Schweizer.“ Kranich wartete, bis die Frau aus dem Raum war. Clara zupfte
an einer Haarsträhne herum. „Noch eine Frage. Wie beurteilen Sie das Verhältnis
zwischen Norbert Lechmeier und Helga Kramer?“
„Er hat uns sofort von einer Klage abgeraten.“ Seine Worte kamen schnell, die
Stimme klang jetzt anders, als sei eine Last von ihr gefallen.
„Aber Sie wollten trotzdem klagen?“
„Ja, das ist das Einzige, das wir für Adrian noch tun können.“
Für Euch . Claras Fingerkuppen tasteten über den Tisch. Es geht hier
um Euch.
Der Mann lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen. „Norbert hielt die
Kramer vielleicht für ein bisschen überspannt, aber eine Feindschaft oder so,
wenn Sie das meinen, die gab es nicht. Im Gegenteil.“
Eine Klospülung röhrte durch die Leitungen in dem alten Gemäuer.
„In den letzten Jahren bin ich oft an der Wohnung von Helga Kramer vorbei
gefahren“, sagte der Mann und blickte zu Boden. „Meist stand sein Auto da.“
„Sie meinen, das von Norbert Lechmeier?“
Er nickte. Ein erstickter Schrei drang aus dem Badezimmer.
Clara sprang auf.
Der Mann hob beschwichtigend die Hände. „Meine Frau schneidet sich die Arme.
Schon seit Jahren. Am besten, Sie gehen jetzt.“

12
    Manchmal ging Clara, wenn es längst dunkel war, durch die
Straßen von Lichterfelde. Sie blieb dann vor dem hell erleuchteten Fenster
einer älteren Dame stehen, die in einem Sessel saß und las. Der Anblick half
Clara, die bösen Bilder zu besänftigen, die sie auf dem Nachhauseweg von
Kranich nicht mehr loswerden konnte. Manchmal blieb sie auch vor einer
verlassenen Ruine stehen und stellte sich vor, wie sie als Kinder durch das unbewohnte
Gebäude geschlichen wären. Jedes

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