Auserwaehlt
Kramer“, entfuhr es Kranich scharf.
Das Gesicht des Mannes klappte nach unten. Die Frau hatte leere Augen.
„Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie zur Auskunft verpflichtet sind.“ Ihre
Stimme klang wieder ruhig. „Also. Sie kannten Helga Kramer?“
„Ja.“
„Woher?“
„Sie war die Lehrerin unseres Sohnes.“
„Die Lehrerin Ihres ...?“ Kranich war überrascht. „Auf Internat Schloss Knauthain?“
„Ja.“
„Unser Sohn ist hochbegabt“, räusperte sich die Frau. Ihr Arm wischte über den
Holztisch. „Musikalisch hochbegabt, vielleicht haben sie davon gelesen. Frau
Kramer hat, also sie ist mit ihm jede Woche auf Konzerte in der ganzen Welt
...“
„Sei still.“ Der Mann legte seine Hand auf den Arm der Frau.
„Ich meine, das ist doch toll“, suchte Clara nach freundlichen Worten.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Clara nun direkt an die Frau gewandt, weil sie
die Ruppigkeit des Mannes ausgleichen wollte.
„Unser Sohn hat sich umgebracht“, sagte der Mann mit dem Vollbart.
Clara hustete. Draußen pfiff ein Vogel. Im Hinterhof knallte eine Tür.
„Wann genau?“
„Vor drei Jahren.“
Kranich ahnte es: „Und Sie geben Frau Kramer dafür die Schuld?“
Die Frau öffnete den Mund, doch der Mann brachte sie mit einem Blick zum
Schweigen. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. Sie hielt sich
die Hände vor die Augen.
Clara zog es die Brust zusammen.
„Das tut mir leid“, sagte Clara leise und zog an den Trägern ihres roten Kleides,
als könnte sie damit ihr Dekolleté und die nackten Arme bedecken. Neben der
Frau in der Strickjacke kam sie sich vor wie eine Touristin in der Kirche.
„Ich muss Sie aber trotzdem fragen: War Norbert Lechmeier gestern Abend bei
Ihnen?“ Kranich wirkte genauso deplatziert.
Der Mann mit dem Vollbart legte die behaarte Hand um den Arm seiner Frau, zog
ihn sanft auf seinen Schoß herab. „Ja“, sagte er schließlich.
„Wann genau?“
„Um acht“, sagt der Mann. „Er kam um acht.“
„Und wie lange?“
Die Frau warf ihrem Mann einen Blick zu.
„So kurz nach zehn ist er wieder aufgebrochen.“
„Sind Sie sicher?“ Kranichs Oberarmmuskulatur spannte sich gut sichtbar an. Im
Gegensatz zu Clara schien es ihr nichts auszumachen, dass sie halb nackt war.
Der Mann nickte.
Clara war enttäuscht. Norbert Lechmeier hatte gelogen, ohne mit der Wimper zu
zucken. Er hatte gesagt, er sei erst kurz vor zwölf aufgebrochen. Warum? Clara
starrte auf die blaue Mülltonne. Sie sah, wie Norbert Lechmeier auf der Fahrt
zum Bahnhof den Blinker setzte und in ein Waldstück abbog. Sie sah das schöne,
ängstliche Gesicht von Helga Kramer, als sie die Spritze bemerkte. Doch warum?
Warum rammte er das Ding seiner langjährigen Geliebten und Freundin in den
Hals? Zärtlich streichelte er ihre Hand, während er sie im Kofferraum
verstaute. Während Norbert Lechmeier mit den Schweizers zu Abend aß, starb
Helga Kramer qualvoll in ihrem Versteck. Die roten Lichter der Autobahn trieben
ihm die Tränen ins Gesicht, als Norbert Lechmeier nachts nach Berlin raste, um
die Leiche abzulegen. Um dort mit dem erstbesten Ast einen Raubmord
vorzutäuschen? Doch warum? Was war sein Motiv?
„Wie gut kennen Sie Norbert Lechmeier?“ Clara schaltete das Aufnahmegerät ein.
Hatte Helga Kramer gefordert, er solle sich von Erika scheiden lassen? Dann
wäre er finanziell höchstwahrscheinlich aufgeschmissen gewesen.
„Nicht besonders gut“, antwortet der Mann. Der Blick seiner Frau hing scheinbar
desinteressiert auf seiner Brust. Clara fragte sich, ob Hass oder Dankbarkeit
daraus sprach.
„Norbert war der einzige Ansprechpartner damals, von der Schule aus, meine ich,
der für uns da war.“ Er tätschelt die Hand seiner Frau. „Die Kramer wollte
nichts davon wissen.“
„Adrian war damals“, der Mann schluckte, „als es passierte, da war er schon ein
paar Jahre aus Knauthain draußen, also er war dreiundzwanzig, als es
passierte.“ Der Mann schluckte wieder. „Aber Adrian hatte trotzdem noch sehr
engen Kontakt zu der Kramer. Er war damals schon auf dem Konservatorium in
München, ist aber fast jedes Wochenende nach Leipzig gekommen, um sie zu
sehen.“
Die Frau schüttelte stumm den Kopf.
„Wir wollten gestern Norberts Rat in einer juristischen Angelegenheit“, sagte
er.
„Wie meinen Sie das?“
„Wir überlegen uns, zu klagen.“
„Zu klagen? Gegen wen?“ fragte Clara, obwohl sie verstand. „Sie wollten gegen
Helga Kramer klagen?“
„Ich nehme an, das ist jetzt zu
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