Auserwaehlt
des Landwehrkanals, nicht
weit vom Zoologischen Garten entfernt. Wenn sie die Abkürzung durch den
Tiergarten nahm, war sie in zehn Minuten da. Stella schloss das Fahrrad auf. Es
war jetzt angenehm warm, nicht mehr so drückend, ein wenig wie die Sommerabende
in Italien. Stella zog ihr Fahrrad aus dem Fahrradständer. Dann bemerkte sie
es.
Merda! Das Hinterrad rollte auf der Felge. Stella bückte sich und berührte den
schlaffen Schlauch. Ein Platten. Ausgerechnet jetzt.
„Kann ich dir helfen?“
Stella blickte auf. Der Mann sah sie erwartungsvoll an, als müsste sie sich an
ihn erinnern.
„Ich weiß nicht.“ Sie überlegte, wo sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte.
„Kannst du einen Reifen flicken?“
22
Margot Kranich starrte an die weiß getünchte Zimmerdecke.
Ein feiner Riss zog sich über die gesamte Breite, im letzten Drittel verzweigte
er sich und verschwand in einem dunklen Fleck. Der Riss sah harmlos aus, als
könnte man ihn mit ein bisschen Gips verschließen. Vielleicht würde sogar eine
Schicht Farbe reichen. Kranich drehte sich auf die Seite, sie schloss die
Augen. Ihr Gehirn war ein harter Klumpen Blei. Seit Wochen hatte sie nicht mehr
geschlafen. Tagsüber ging es, doch nachts wachte sie mit rasendem Herzen
ruckartig auf und fand nicht mehr zurück in den Schlaf. Sie drehte sich wieder
auf den Rücken und starrte nach oben. Plötzlich wusste sie, dass der Riss tiefer
war; wahrscheinlich war es längst in die Substanz eingedrungen.
Kranich tastete nach dem Handy. Es war 5 Uhr 16. Johannes ahnte etwas, da war
sie sich sicher, und Clara auch. Sie stand auf, ging ins Badezimmer und
duschte. Das warme Wasser prasselte auf ihren Kopf, es tat gut, die Nackenmuskulatur
entspannte sich. Langsam streckte sie ihre Arme in die Luft. Mit beiden Händen
griff sie nach der Duschstange und rüttelte daran. Dann ließ sie sich auf den
Boden sinken und schlug die Hände vors Gesicht.
„Guten morgen, Margot! Guten morgen, Günther!“
Sie ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Ein dumpfes
Grummeln drang aus der Tiefe des Triebwerks, es knackte, ratterte. Die Maschine
beruhigte sie. Kranich hängte eine Tüte Milch an den Schlauch und starrte in
die Tasse, während der weiße Strahl sie füllte. Unter ohrenbetäubendem Lärm
zermahlte es die Bohnen. Kranich massierte sich die Hände, während der Espresso
in den weißen Schaum eindrang.
„Guten morgen, Margot! Guten morgen, Günther!“ krächzte der Vogel wieder.
Mit der Tasse in der Hand blieb Kranich am Käfig stehen.
„Guten morgen, Beo“, flüsterte sie zärtlich.
„Guter guter guter Beo“, nickte er und trat aufgeregt von einem Fuß auf den
anderen.
„Wer bist du? Wer bist du? Guter guter guter Beo.“
Sie setzte sich an den langen Holztisch, tat Zucker in den Cappuccino und
blickte in den Garten hinaus. Über dem Gras schwebte eine Nebelwolke, an den
Rändern löste sie sich bereits auf. Kranich liebte das Haus vor allem deshalb:
Von der offenen Wohnküche sah man durch die Fensterfront direkt in den Garten,
der für Berliner Verhältnisse luxuriös war. Dahinter kam nur noch der
Treptowkanal.
Kranichs Handy ratterte und hüpfte auf dem Tisch. Sie blickte auf das Display.
Es war einer der diensthabenden Streifenpolizisten.
„Kranich?“, meldete sie sich.
„Frau Hauptkommissarin.“ Jemand atmete schwer. „Hier Kiontke, Fritz, von der
Dritten. Ein Rentner hat die Leiche einer jungen Frau gefunden, im Tiergarten.
Wir sind gerade angekommen.“ Er hustete. „Sieht nach Raubmord aus.“
„Wo genau?“ Alles in Kranich ging auf Alarmstellung.
„Wenn Sie den Großen Weg in Richtung Straße des 17. Juni fahren, auf der Höhe
vom Neuen See, dann sehen Sie uns schon.“
„Bin unterwegs.“
„Ach so, Fritz“, fügte sie hinzu. „Verständigen Sie bitte die Spurensicherung
und fragen sie bei Johannes Teufel an.“
Mit dem Handy zwischen Ohr und Schulter stürzte sie den Kaffee hinunter, zog
die Turnschuhe an und griff nach dem Schlüssel. Zum dritten Mal sprang bei
Clara nur die Mailbox an. Ihr Handy war abgeschaltet. Das hatte es noch nie
gegeben.
„Teufel, Teufel“, hörte sie den Vogel noch krächzen, bevor sie die Tür zuknallte
und losfuhr.
Kranich parkte den schwarzen Audi in der Lichtensteinstraße
und ging den Rest zu Fuß. Der Waldboden dampfte. Es roch nach Wasser und Erde.
Sie zog ihre Lederjacke über. Plötzlich fröstelte sie.
Kiontke winkte ihr zu. Seine Nase war rot, der buschige Schnauzer gelb, eine
Reverenz
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