Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
Vom Netzwerk:
Stirn der Toten, als
könnte er ihr die Schmerzen nehmen.
Kranich zuckte zusammen, als sie jemand am Arm berührte. Es war noch mal
Richard. In der Hand hielt er eine Plastikfolie.
Ein roter Zettel mit der Aufschrift „Ich bin auserwählt“ war darin.
Niemand sagte etwas. Ein Vogel zwitscherte.
Hagen löste sich als erster aus der Erstarrung. „Entweder, die verteilen das
als Lesezeichen bei Hugendubel, oder ...“
Er verstummte.
„Entschuldigung.“ Teufel nickte Clara zu, die eben eingetroffen war. „Ich muss
mal eine rauchen.“
„Was ist?“ Clara blickte Teufel fragend hinterher. „Was hat er?“
„Hagen wird dich aufklären.“ Margot nickte Clara zu, dann ging sie mit hängenden
Schultern in Richtung Streifenwagen.
Die Tote lag auf dem Rücken. Ihre Augen waren geschlossen. Blut und Dreck
klebten an ihren nackten Armen, im Gesicht und an den Schenkeln. Die Wunde an
der Stirn klaffte, doch die Schädeldecke schien intakt zu sein. Die Frau war
etwas jünger als sie selbst. Sie hatte lange, dunkle Haare und ebensolche
Wimpern. Obwohl jemand diese Frau zerstört und getötet hatte, war noch immer zu
erkennen, dass sie schön gewesen war. Es war eine Schönheit, die man nicht so
schnell vergaß.
„... letztlich ein Szenario ähnlich dem Fall von Helga Kramer“, hörte Clara
Hagen wie durch eine Nebelwand.
„Clara?“ wiederholte er. Seine Stimme klang besorgt.
Clara kniete neben der Toten. Sie war blass geworden. „Kannst du dich nicht
erinnern?“, fragte sie.
„Was meinst du?“
„Sieh doch.“
Hagen beugte sich herab.
„Das ist doch die Frau, die bei der Strafrecht-Fortbildung assistiert hat, letzten
Sommer an der Humboldt.“ Clara blickte Hagen verzweifelt in die Augen.
„Erinnerst du dich nicht?“
Hagen beugte sich weiter herab.
„Kann sein, dass sie das ist“, bestätigte er.

23
    Der Tag war vollkommen. Der Himmel über Berlin war blau ohne
eine einzige Wolke und die Sonne schien mit sanfter Wärme. Ursula von Lehndorff
dachte an das Wochenende und hoffte, dass das Wetter bis Sonntag anhielt. Sie
wollte mit ihren Enkeln im Spreewald Kanufahren.
„Bist du sicher, Margot?“ Margarete Knuppers stand am Fenster. Die Polizeivizepräsidentin
blickte auf das weitläufige Gelände, das einmal der Flughafen Tempelhof war.
„Die Laborergebnisse sind zwar noch nicht da, aber der Schnelltest war positiv.
Die körperlichen Symptome weisen laut Johannes Teufel ebenfalls darauf hin,
dass ...“
„Einen Fehlalarm können wir uns nicht leisten.“ Manfred Schultze, Erster Direktor
beim Polizeipräsidenten Berlin, gab seinen Worten Nachdruck, indem er
schmatzte. Er war ein kleiner Mann mit einem stechenden Blick, den er solange
in sein Gegenüber bohrte, bis es klein beigab. Wenn es sein musste, legte er
genug Manieren an den Tag, um für den Sprössling einer Hamburger Adelsfamilie
gehalten zu werden; dass er der Sohn eines Busfahrers aus dem Wedding war,
erfüllte ihn dabei mit Stolz. Er hatte eine Vorliebe für deftiges Essen, seine
untersetzte Figur steckte meist in einem verknitterten Anzug.
Margot sah Ursula bittend an.
„Das sehe ich genauso“, erklärte die Staatsanwältin. „Nur darum geht es jetzt
nicht.“ Sie schlug die Beine übereinander.
„Jetzt müssen wir entscheiden, ob wir die Verantwortung dafür übernehmen
können, die Bevölkerung nicht zu warnen. Ein Verrückter läuft durch Berlin und
überfällt Passanten mit einer Giftspritze.“
„Du hast recht.“ Margarete Knuppers drehte sich herum. „Wir müssen die Bevölkerung
warnen.“
Schultze pflichtete ihr bei. Margarete Knuppers war die mächtigste Frau der Berliner
Polizei. Bei ihrer Amtseinführung war sie mit harten Gesichtszügen und in
strenger Uniform ans Rednerpult geschritten, den Blick ohne Widerspruch. Eine
Domina, hatte Margot Ursula ins Ohr geflüstert und noch beim Empfang zielte der
ein oder andere Kommentar hinter vorgehaltener Hand in diese Richtung. Doch sie
hatten sich getäuscht. Ein paar Wochen später war die Vizepräsidentin eine
sportliche Frau, die gern lachte und vor Energie sprühte. Ihr Erstaunen wuchs,
als sie Fotos von Margarete Knuppers sahen, die sie auf einer Vernissage
zeigten, perfekt geschminkt und elegant gestylt fügte sie sich in den Small
Talk der Berliner Kulturschickeria. Die Frau war ein Chamäleon. Heute trug sie
das biedere Halstuch und den pragmatischen Gesichtsausdruck einer Hausfrau der
alten Schule.
„Es ist unsere Pflicht, die Berliner Bevölkerung zu warnen“, wiederholte

Weitere Kostenlose Bücher