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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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nach rechts über den gelben Panzer der Philharmonie und
wieder zurück zu der Frage auf ihrem Bildschirm: Bei der Schuldfähigkeit
gilt grundsätzlich das Simultanitätsprinzip: Der Täter muss bei Begehung der
Tat schuldfähig sein. Welche Rechtsfigur kann dieses Prinzip durchbrechen?
 actio libera in causa
 error in obiecto. Ohne nachzudenken, klickte Stella auf die erste Antwort. Sie hätte die
Fragen im Schlaf beantworten können, doch trotzdem wiederholte sie den
Crashkurs in Strafrecht in regelmäßigen Abständen.
Jemand hustete, schon wieder. Die Klimaanlage war zu kalt eingestellt. Hinter
ihr unterhielten sich zwei. Stella drehte die Wachspfropfen tiefer in ihre Ohren.
Jemand ging an ihrem Tisch vorbei, schon wieder der komische Typ. Fand der
keinen Platz? Stella versuchte, sich zu konzentrieren, doch es gelang ihr
nicht. Die Staatsbibliothek West verfügte über mehr als achthundert Arbeitsplätze,
die heute alle besetzt schienen.
Richtig! Mit der Rechtsfigur der actio libera in causa (alic) wird die Verantwortlichkeit
vorverlagert: das vorwerfbare Versetzen in einen schuldunfähigen Zustand (z. B.
sich zu betrinken) als Tatursache.
Worauf muss sich der Vorsatz in diesen Fällen beziehen?
(1) Auf die Begehung der Tat.
(2) Auf die Begehung der Tat und das Herbeiführen des Defektzustands.
    Stella blickte zu Judy in den Sonderlesebereich hinab, die
über den roten Gesetzesbüchern brütete. Es war Viertel vor eins. Lustlos
schloss Stella das Jura-Programm und öffnete den Browser. Sie würde noch etwas
Zeitung lesen. In den letzten Wochen während der Prüfungsvorbereitung hatte sie
so gut wie nichts mehr mitbekommen. Ein Killervirus hätte Berlin lahmlegen
können, ein Erdbeben hätte ihre Tante in Umbrien obdachlos machen können und
sie hätte nichts davon mitgekriegt. Obwohl – ihre Mutter hätte sie sofort angerufen,
wenn Giulias Hütte endlich eingefallen wäre.
Glotz doch nicht so blöd. Stella setzte ein vielsagendes Lächeln auf. Der Typ mit der Halbglatze,
Stella kannte ihn von der juristischen Fakultät, blickte zu ihr hoch. Nach ein
paar Sekunden blickten sie beide weg.
Nein! Nicht schon wieder. Ärgerlich drückte Stella die Escape-Taste. Das rote Fenster verschwand. Sie
musste sich die Werbung heute Morgen mit irgendeiner Spammail eingefangen
haben, seitdem blinkte der rote Mist fast stündlich auf ihrem Bildschirm auf.
„Ich bin auserwählt!“ So ein Quatsch. Der Typ mit der Halbglatze stand von
seinem Platz auf. Während er zum Ausgang ging, blickte er noch einmal zu ihr
hoch. Als sie ihm hinterher sah, grinste er.
Stronzo. Wenn die Mail von dir kommt, ist es vorbei, bevor es angefangen
hat. Judy bewegte sich in dem weißen Hemdkleid, das sie seit einer Woche ununterbrochen
trug, über den hellgrünen Teppichboden auf Stella zu. Unter dem Geländer blieb
sie stehen, blickte hoch und führte einen imaginären Löffel zum Mund. Stella
nickte. Es war Zeit für die Mittagspause.
Sie packte ihre Sachen in die durchsichtige Plastiktüte der Bibliothek und
vergewisserte sich, dass ihr Laptop angeschlossen war. Die Bücher ließ sie auf
dem Tisch zurück.
    „Alles klar?“ Stella hakte sich bei ihrer Freundin ein. Judy
sah müde aus, um ihren Mund verteilten sich rote Flecken, die sie mit Make-up
zu kaschieren versucht hatte.
„Wenn es nur schon rum wäre.“ Sie zeigte auf ihren Mund. „Jetzt hab ich mich
gestern auch noch massakriert.“
„Mit so einem Wachsstreifen.“ Judy verdrehte die Augen. „Scheißdreck.“
„Kannst du laut sagen.“
Sie gingen die Treppe zum Eingangsbereich hinab.
„Ich kapier die letzten Beispielfälle aus den Rep-Unterlagen einfach nicht“,
sagte Judy, zog ihre Bibliothekskarte, zeigte sie dem Mann an der Einlasskontrolle
und passierte das Drehkreuz.
„Welche?“ Stella lächelte dem Mann zu.
Die beiden Juristinnen durchquerten das Foyer.
„Vor allem der vierte bei den Tötungsdelikten, den wir gestern schon diskutiert
haben.“ Judy hielt Stella die Tür auf. „Also das ist doch total unlogisch.“
„Du musst dir die Opferdefinition einbläuen.“ Vor dem Eingang standen ein paar
Leute und rauchten. Stella grüßte jemand. „Wann fängt Menschenqualität an?“
„So um die zwölfte Schwangerschaftswoche dachte ich.“
„Im strafrechtlichen Sinn.“ Stella blinzelte gegen die Sonne. Es war jedes Mal
ein Schock, in die Mittagshitze hinaus zu treten. Sie zog das Shirt aus, das
sie über dem Kleid trug, und setzte ihre Sonnenbrille auf. „Ein Mensch

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