Auserwaehlt
bist du
im strafrechtlichen Sinne erst ab der ersten Eröffnungswehe beziehungsweise ab
dem Ansetzen des Skalpells zum Kaiserschnitt.“
„Und wenn ich im fünften Monat Wehen bekomme?“ Judy klang panisch.
„Im fünften Monat ist ein Embryo noch nicht lebensfähig.“ Sie grüßte wieder
jemand. „Wo ist das Problem?“
„Scheißdreck.“ Judy presste sich die Hände an die Schläfen. „Ich schaff das
nicht.“
Schweigend überquerten sie die Potsdamer Straße. Sie kamen an dem Kiosk vorbei,
der wirkte, als könnte er über Nacht verschwinden, so improvisiert war er
zusammengebastelt, dabei hielt er sich schon seit Jahren hier direkt an der
Straße. Alles war besetzt. Die Leute blickten auf die vierspurige Straße, als
säßen sie direkt am Meer.
„Charlotte!“ Stella winkte jemand. „Alles klar?“
Ein paar Männer reckten die Hälse. Judy wusste, dass sie gut aussah, doch meist
zog Stella die Aufmerksamkeit auf sich. Stella war so lebendig. Das
transparente Sommerkleid, das Stella trug, tat sein übriges. Von hinten konnte
man die Spalte in ihrem Gesäß deutlich erkennen; Judy hatte es ihr gesagt, doch
es schien sie nicht zu stören.
„Ich glaube, Herr von Bödefeld hat ein Problem.“ Stella blickte die Freundin
an. Judy hatte den Typen mit der Halbglatze so genannt, weil er sie einmal in
der Cafeteria angesprochen und – sie schwöre – „genau wie Herr von Bödefeld von
der Sesamstraße“ genäselt habe.
„Ich habe heute Morgen so eine Mail bekommen“, fuhr Stella fort, nachdem Judy
schwieg. „Alles war rot. Ich bin auserwählt, stand drin, sonst nichts.“
„Rot?“
„Ich bin auserwählt“, wiederholte Stella. Die Schindeln der Staatsbibliothek
glänzten wie Gold. „Der hat echt ein Problem.“
„Ich hab ein ganz anderes Problem“, jammerte Judy. „Bei dir geht es ja eh nur
darum, ob du mit oder ohne Prädikat abschließt.“ Sie warf einen vergewissernden
Blick auf Stellas Hinterteil. „Aber bei mir geht’s um die nackte Existenz.“
„Meine Drama Queen.“ Stella legte den Arm um die Freundin.
„Hey, das ist erst der Schnellschuss“, fügte sie hinzu, als sie die Angst in
Judys Augen sah. „Danach gibt es immer noch eine zweite Chance.“
Judys Gesicht verzog sich. Plötzlich ließ sie sich auf die Steintreppen vor der
Neuen Nationalgalerie fallen und legte die Hände vor die Augen.
„Ich schaff das nicht.“
„Hey.“ Stella setzte sich zu ihr. „Sieh mal.“
Sie deutete in den Himmel hinauf. Judy folgte ihrem Blick.
„In vierzehn Tagen sitzen wir im Flieger nach Neapel.“ Die Wolken spiegelten sich
in Judys hellen Augen. „Denk an unser Hotel, den Limoncello, an die Abende auf
der Dachterrasse.“
„Wenn wir nur schon dort wären.“ Judy lächelte schwach.
Stella ließ das rote Papier durch ihre Finger gleiten. Es
war etwas dünner als normales. Unschlüssig blätterte sie das Strafgesetzbuch
durch; sonst lag nichts darin. Stella blickte sich um. Herr von Bödefeld war
nicht an seinem Platz. War er wirklich so kindisch? Was wollte er damit sagen?
Dass er sie auserwählt hatte? Dass er sich selbst für auserwählt hielt?
Jemand hustete. Stella drehte sich um. Der kleine Blonde, der hinten in der
Ecke saß, beobachtete sie schon den ganzen Tag. Als sie ihn fixierte, lief er
rot an und versteckte sich hinter seinem Apple.
Oder war es der? Entschlossen knüllte sie den Zettel zusammen, erhob sich und ging auf den
Apple-Typen zu. Sie konnte sein Herz rasen hören. Sie warf den Zettel in den
Papierkorb neben seinem Tisch. Dann kehrte sie wieder an ihren Platz zurück.
Sie musste sich auf die Prüfung konzentrieren. Für solche Spielchen hatte sie
jetzt wirklich keine Zeit.
Stella verließ die Staatsbibliothek pünktlich mit dem Gong,
es war 20 Uhr 56, als sie am Fahrradständer stehen blieb. Der Hausmeister hatte
bereits begonnen, die Drehtüren abzuschließen, während die letzten Benutzer
noch herauströpfelten. Man sah ihnen an, dass sie den ganzen Tag in der
Bibliothek verbracht hatten, dachte Stella, ihre Gesichter waren noch nicht
wieder da. Judy war bereits aufgebrochen, sie wollte noch einkaufen, hatte aber
versprochen, spätestens um halb zehn im Schleusenkrug zu sein. Stella stemmte
ihre Laptoptasche in den Fahrradkorb. Ein kühles Bier am Abend war alles,
worauf sie sich zurzeit freute. Danach würde sie ins Bett gehen, um morgen früh
um neun wieder hier zu sein.
Was für ein Leben! Stella streckte sich.
Der Schleusenkrug war ein Biergarten direkt am Wasser
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