Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
Clara wäre viel lieber bei Sabrina und Tula geblieben. Total gelangweilt beobachtet sie ihre Eltern dabei, wie sie bunte Bilder an weißen Wänden bestaunen. Die entsprechenden Erklärungen ihres Vaters würdigt sie mit schielenden Grimassen.
»Willst du sie heute noch an der Kunsthochschule anmelden oder dürfen wir jetzt endlich ins Hotel zurück?«, albert Tobias und ich gebe auf.
Als Clara schläft sagt er mit ernster Miene: »Für den Fall, dass wir morgen auf meinen Vater treffen, bitte ich dich inständig, dich zurück zu halten. Ich möchte keinen Kontakt zu ihm und schon gar keine Versöhnung. Ich kenne dich. Du wirst dich von ihm einlullen lassen. Er ist ein Charmeur. Ein Frauenheld.«
»Er ist ein 78 jähriger alter, kranker Mann, der im Rollstuhl sitzt. Aber danke für deine Verhaltensregeln. Wenn du befürchtest, dass ich mich nicht benehmen kann, warum bist du dann nicht allein hergekommen?« Ich bin beleidigt. Tobias ist verwundert.
»Woher weißt du, dass er im Rollstuhl sitzt?«
»Er hat MS. Natascha hat es mir erzählt. Und du brauchst dich nicht weiter aufzuregen, mehr haben wir nicht über ihn gesprochen.«
Tobias macht seinen Mädchen Beine. Er will rechtzeitig aufbrechen, um noch eine Rundfahrt durch Lübeck zu machen. Clara und ich sollen sehen, wo er seine Kindheit verbracht hat. Wir fahren vor seine alte Schule, er parkt vor einer weißen Villa, in der er mit seiner Mutter wohnte und schließlich geht es zum Domizil von Tante Berta.
»Das war ursprünglich das Haus meiner Großeltern. Berta hatte es als ältestes Kind von ihnen geerbt.«
»Das sieht ja aus wie ein Schloss«, sagt Clara und ist ganz fasziniert von dem Anwesen. Das imposante Rotklinker Herrenhaus mit weißen Sprossenfenstern und zahlreichen Erkern und Türmchen steht auf einem parkähnlichen Grundstück und ist von hohen Mauern umgeben.
»Du kommst aus einem richtig reichen Stall«, sage ich ungläubig.
»Alter Lübecker Geldadel«, sagt Tobias. Was immer hier vorgefallen ist, es muss ihn übermäßig verletzt haben, denke ich. Warum sonst, hat er Lübeck den Rücken gekehrt und jahrzehntelang auf Familie, Geld und Wohlstand verzichtet.
Die Friedhofskapelle ist bis zur Tür gefüllt. Natascha hat in der ersten Reihe auf der rechten Bank drei Plätze für uns frei gehalten. Vor der linken Bank sitzt Paul Martin im Rollstuhl. Neben ihm seine Frau, die pummelige Natalie, die ich vom Foto kenne und Natascha. Das Paar, das neben uns auf der rechten Bank Platz genommen hat, kenne ich nicht. Während der Trauerrede muss ich meinen Sitznachbarn immer wieder im Profil anschauen. Er sieht aus wie Tobi. Zwar hat er einen anderen Haarschnitt, aber die Gesichtszüge sind unverkennbar ähnlich. Nach einer halben Stunde hat der Pastor seine Rede beendet und die Orgelmusik setzt ein. Berta war also kinderlos. Sie führte eine Musikschule und unterrichtete talentierte Schüler auch unentgeltlich. Sie war Ehrenmitglied beim Deutschen Roten Kreuz und großzügige Spenderin der SOS Kinderdörfer. Außerdem war sie Mitbegründerin der Lübecker Tafel. War sie eine Heilige? Das nun nicht, aber sie gab Tobias nach dem Tod seiner Mutter ein Zuhause. Ein Zuhause, dass er sofort nach Erreichen der Volljährigkeit verließ und nie wieder aufsuchte. Was verheimlicht er mir? Die Trauergesellschaft erhebt sich und ich grüße meine Sitznachbarn auf der rechten Bank mit einem Lächeln. Sprechen ist mir ja untersagt. Auf dem Vorplatz der Kapelle steht ein Herr mit Aktentasche, der laut nach Tobias Martin ruft. Er ist der Notar, der sich für sein Kommen bedankt.
»Ich bitte nun die Familien Martin und Winter zu mir. Bitte fahren sie mir in die Räume meiner Kanzlei nach. Um 14.00 Uhr wird dort die Testamentseröffnung stattfinden.« Ich blinzle Natascha zu. Sie folgt mir auf der Suche nach einem Toilettenraum für Clara.
»Wer sind die Winters«, will ich von ihr wissen.
»Timo ist Tobis älterer Bruder und Marita seine jüngere Schwester. Seine Geschwister aus der DDR.«
»Du meinst seine Halbgeschwister?« Sie schüttelt den Kopf. Als sie meinen ungläubigen Blick bemerkt, sagt sie: »Lass es dir von Tobi selbst erklären. Ich will mich hier nicht in die Nesseln setzen.« Ich nehme Clara an die Hand und gehe zur Kapelle zurück. Die Trauergemeinde hat sich schon aufgelöst und Tobias wartet bei laufendem Motor im Wagen.
»Hat er dich angequatscht?« Nervös zieht er während
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