Ausgefressen
winkt uns herein.
Wir haben ihn. Das ist mein erster Gedanke, als ich die freigekratzten Finger und die dazugehörige Hand sehe. Und das Stück seiner Hose. Wir haben ihn tatsächlich gefunden.
»Denkst du, was ich denke?«, frage ich Rufus.
Der untersucht die Hand, beschnuppert sie, hebt einen Finger an und lässt ihn wieder fallen. »Denke schon: männlich. Noch nicht lange unter der Erde. Die Finger riechen noch nach Döner.«
Ich drehe mich zu den anderen: »Nino: Du gibst Rocky Bescheid. Ihr anderen trommelt den Clan zusammen. Sofort. Ma und Pa brauchen vorerst noch nichts zu wissen. Wenn das hier unsere Leiche ist, dann hat sie irgendwo zwischen einem und sieben Einschusslöcher. Ich will, dass sie so weit freigelegt wird, bis wir Sicherheit haben.«
Im Handumdrehen sind alle verduftet – bis auf Nick, der die Klauen hinter dem Rücken verborgen hält, nervös zwinkert und permanent von einem Bein auf das andere tritt.
»Nick?«, frage ich.
»Ray?«
»Wo sind deine Geschwister?«
Er blickt sich um. »Weiß nicht.«
»Ich hab sie losgeschickt, um den Clan zusammenzutrommeln.«
Nicks Kopf zuckt hin und her. »Stimmt.«
»Warum bist du nicht mit ihnen gegangen?«, frage ich.
Im Licht von Rufus’ Leuchtdiode sehe ich Nicks Pupillen tanzen. »Weiß nicht«, entgegnet er, »äh – alles klar … Ich geh dann mal …«
Rufus und ich verfolgen, wie Nick bei dem Versuch, im Rückwärtsgang den Ausgang zu treffen, dreimal gegen die Wand stößt. Danach hab ich genug.
»Gib’s her«, sage ich.
Nick streift mit dem Hintern die Wand entlang. »Weiß nicht, was du meinst.«
Ich schneide ihm den Weg ab und halte die Klaue auf: »Du kannst es jetzt mir geben und mit einem gutgemeinten Rat davonkommen, oder wir warten hier, bis Rocky kommt, und lassen ihn die Sache klären.«
Nick weiß, was das bedeutet: Schmerzen. »Okay, Mann, okay …« Sichtlich gepeinigt führt er seine Klaue vor den Körper und gibt mir, woran er sich festkrallt: ein kleines Päckchen, das wie ein einzeln verpacktes Kaugummi aussieht. Eins.
Ich halte erst die Nase dran, dann meine andere Klaue hin: »Alles.«
Mit seiner zweiten Klaue kommt ein kleines Plastiktütchen zum Vorschein. In dem wohnen noch mehr von den Päckchen, ein halbes Dutzend, mindestens. Rufus nimmt es ihm aus der Hand und studiert den Aufdruck: »Fri-geo Ener-gy Pur Stra-ccia-tella«, stoppelt er die Worte zusammen. »Traubenzucker mit Schokoladen-Vanille-Coffein-Geschmack.« Er sieht Nick an, wie Pa sonst immer mich ansieht: Am Ende ist er nur eine Enttäuschung mehr.
»Pass auf, Nick.« Ich nehme Rufus die Tüte aus der Hand, stopfe das einzelne Päckchen zu den anderen und lasse alles zusammen in einer Ecke der Kammer verschwinden. »Wenn ich dich noch einmal mit diesem Zeug erwische, setzen wir dich auf Entzug. Klar?«
»Is klar, Mann. Is klar.«
»Gut. Und jetzt verkrümel dich, bevor Rocky hier auftaucht.«
»Jo, Mann. Cool.« Er vibriert auf der Stelle.
»Jetzt!«
Und weg ist er.
Am frühen Nachmittag haben wir Gewissheit. Es ist die Leiche, die wir suchen: ein Einschussloch, links, auf Brusthöhe. Rocky hat die Freilegung überwacht, als handele es sich bei dem Toten um sein persönliches Eigentum. Sieht unwirklich aus, so ein Einschussloch. Wie hingeschminkt. Bis man dranfasst. Dann erschrickt man, weil das Fleisch unter dem Hemd so weich ist. Arme Sau. Kein Mensch geht in den Zoo, um erschossen zu werden.
Bis Phil auftaucht, ist es später Nachmittag, und die meisten tagaktiven Tiere sind ganz schön groggy. Bald brechen die großen Ferien an. Doch bis es so weit ist, schleust man noch einmal sämtliche Schulklassen der Stadt durch den Zoo. »Alles nicht halb so schlimm wie das Oktoberfest«, sagt Bert immer. Bert ist der Blauara, und bevor er zu uns in den Zoo kam, hat er sein Dasein als Jahrmarktsattraktion in einer Jetonkabine verbracht. Sein alter Besitzer hat ihn dem Zoo vermacht, nachdem er sich geweigert hatte, länger »Einsteigen, bitte, einsteigen, bitte!« zu krähen.
Wie üblich trägt Phil sein Leinensakko und die Ray-Ban. Und wie üblich sieht er sagenhaft desillusioniert aus. Die Tüte, die er heute dabei hat, fällt ein bisschen kleiner aus als die blaue von gestern.
Ich sage Rufus, er soll am Osteingang auf mich warten, und schlendere zum Zaun runter. Als ich bei Phil angekommen bin, rufe ich: »Iiiihhhk, ik, ik ihhhjak!«
»Warte ’n Moment.« Phil blickt sich um und zieht seinen Flachmann aus der Innentasche.
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