Ausgefressen
probiert es mit dem Schocker. Der scheint jedoch seinen Geist aufgegeben zu haben. »Will nicht!«, stellt er fest. Inzwischen trennen ihn nur noch wenige Meter von uns.
Rufus und ich springen auf und lassen die Leiter runter. »Los!«, brüllen wir durch das Loch.
Im nächsten Moment hängt etwas Schweres am Strick und zappelt hin und her. »Hochziehen!«
Wir zerren mit aller Kraft, doch es bewegt sich nichts. Gar nichts. Ich blicke durch das Loch und sehe eine Traube aus Ratten, die an Rocky hängt, der wiederum am Seil hängt.
»Das schaffen wir nicht«, rufe ich hinunter. »Du musst Ballast loswerden! Versuch noch mal den Scho…«
Fffffapppp!
»Schon passiert!«
Wir ziehen. Es geht. Aber sehr langsam. Rocky ist verdammt schwer. Und unsere Schwester macht ihn nicht leichter. Unterdessen formieren sich die Ratten neu und beginnen damit, alte Gemüsekisten übereinanderzustapeln. Man mag von denen halten, was man will, aber sie sind verdammt gut organisiert. Alle ordnen sich dem gemeinsamen Ziel unter. Das Individuum zählt gar nichts. Sehr beeindruckend. Selbstlose Scheißer.
Endlich krallt sich Rockys blutige Klaue in den Kraterrand. Rufus und ich greifen uns Natalie und ziehen sie durchs Loch. Die Ratten haben ihr ein vergammeltes Schweißband über die Augen gezogen und die Vorderbeine hinter dem Rücken mit einem Kabelbinder verschnürt. Rocky hat sie sich einfach in seinen Klettgürtel geklemmt. Mit letzter Kraft ziehen wir auch Rocky in den Bau. Bereits ein flüchtiger Blick offenbart, dass er übel zugerichtet ist: Bisswunden, Schnitte, ein ausgekugeltes Hinterbein, die linke Gesichtshälfte vollständig zugeschwollen.
»Kann mir mal jemand die Binde abnehmen?«, bittet Natalie mit brüchiger Stimme.
»Später«, keuche ich und zerre sie Richtung Ausgang, »jetzt erst mal raus hier!«
Rufus und ich nehmen sie in unsere Mitte und hasten durch den Gang, als mir etwas auffällt.
»Rufus?«
»Was?«
»Wo ist Rocky?«
Mein Bruder und ich bleiben stehen, während Natalie brav weiterhastet, sich dann ihr zartes Gesicht an einer Baumwurzel platthaut und mit grazilem Stöhnen zusammenbricht.
Die Situation stresst Rufus derart, dass er zu für ihn äußersten Mitteln greift und tatsächlich »Scheiße!« sagt.
Wir eilen zur Kammer, in der wir unseren großen Bruder zurückgelassen haben, und erreichen sie gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der angeschwollene Kriegsheld Rocky breitbeinig über dem Loch aufbaut. Zwischen seinen Zähnen blitzt ein Metallstift, in den Klauen hält er die entsicherte Handgranate.
»Um Gottes willen …«, keucht Rufus. Und dann: »Natalie!«
»Keine gute Idee, Rocky«, sage ich.
Rocky blickt durch das Loch. »Gemüsekisten …« Er spuckt den Metallstift aus, schaut von mir zu Rufus und wieder zu mir – und lässt die Granate durch das Loch fallen. »Schätze, wir gehen besser.«
Als ich das Bewusstsein wiedererlange, steckt mein Kopf zwischen den Käfigstreben, und meinen Füßen fehlen gute zwei Meter zum Boden. Rufus und Natalie sind durch den Ostausgang geschleudert worden, ich durch den Westausgang. Jedenfalls legen das die Indizien nahe. Von der Detonation selbst ist mir nichts in Erinnerung. Rocky, auch das werden wir später rekonstruieren, hat es durch keinen unserer Ausgänge geschleudert. Die Explosion hat ihn einfach durchs Erdreich gedrückt – weshalb wir jetzt einen weiteren Zugang zu unserem Bau haben. Sofern dieser Bau noch existiert. Was zu prüfen sein wird. Sobald sich der Rauch verzogen hat.
Wie nach geschlagener Schlacht rotten wir uns nach und nach auf dem Hügel zusammen. Rocky hatte Glück im Unglück: Weil seine linke Gesichtshälfte zugeschwollen war, hat es ihm bei der Explosion nur das rechte Trommelfell zerrissen. Er hat Schmerzen. Wahrscheinlich käme er aus eigener Kraft nicht einmal mehr den Hügel hinauf, doch das muss er auch gar nicht, denn die anderen tragen ihn, nehmen ihn auf die Schulter, und der Clan jubelt ihm zu. Er ist der Held der Helden, das tapferste Erdmännchen seit Urururgroßvater Chester, der mal im Alleingang eine Hundertschaft von Puffottern plattgemacht haben soll, die in seinen Bau eingefallen war. Und auch, wenn es Wochen dauern wird, bevor Rocky wieder normal laufen und gucken kann – in dem Moment, da der Clan ihn in seine Mitte nimmt und sich Natalie und Roxane gleichzeitig auf ihn stürzen, ist er glücklicher als je zuvor in seinem Leben. Und er hat recht: Im Grunde meines Herzens bin
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