Ausgefressen
der wir inzwischen wissen, dass es sich um eine Handgranate handelt.
»Was issn damit?«, fragt Rocky.
Und da ist er wieder: derselbe besorgte Blick.
Kapitel 7
Rufus und ich begleiten Rocky bis zum Einstieg in die Unterwelt. Vorsichtig neige ich mich über die Öffnung. Ein schwarzer Abgrund tut sich auf, ein biblisches Nichts, erfüllt von einem leisen Rauschen und dem Geruch nach menschlichen Exkrementen. Rocky muss komplett bescheuert sein, dass er sich freiwillig da hineinwagt. Ich blicke mich um. Mein großer Bruder schaltet die Stirnlampe ein und zieht den Klettgürtel nach, von dem der Elektroschocker und die Handgranate baumeln. Yep, isser – komplett bescheuert.
»Bist du sicher …«, setzt Rufus an, wird aber nach dem dritten Wort zärtlich gegen die Wand geschleudert.
»Lass ma«, donnert Rocky, »ich mach das schon. So eine Mission ist nix für Weicheier wie euch. Haltet einfach die Leiter.«
Rufus rappelt sich auf, rollt den Strick mit den geknoteten Schlaufen aus und lässt ihn ins Nichts hinabgleiten. Am Ende ist der Strick um den Teleskopfuß einer Krücke gebunden. Rufus und ich nehmen einander gegenüber Aufstellung, grätschen die Beine und legen uns die Stange auf die Schulter. Rufus nickt, ich nicke, Rocky nickt.
»Also dann …« Rocky greift sich den Strick und verschwindet bis zum Hals im Loch. Dann hält er noch einmal inne. »Was issn das fürn Rauschen?« Typisch, denke ich, den Geruch bemerkt er gar nicht.
»Wasser«, antwortet Rufus. »Ist nun einmal die Kanalisation.«
Die Information scheint Rocky nachdenklich zu stimmen. Für die Länge eines Wimpernschlages jedenfalls. »Wie sieht’s aus«, fragt er, »kann ich schwimmen?«
»Alle Säugetiere können schwimmen«, antwortet Rufus.
Ich werfe meinem kleinen Bruder einen fragenden Blick zu. Er antwortet mit einem Gesicht, das übersetzt heißt: Hab ich irgendwo gelesen, glaube ich.
»Und ich
bin
ein Säuger«, vergewissert sich Rocky.
»Yep«, sage ich.
Rufus nickt bestätigend.
»Na dann …«
Mit bangen Blicken verfolgen wir, wie der Kopf unseres großen Bruders im Schwarz der Unterwelt verschwindet. Kurz darauf hört man ein Platschen, und Rockys Gewicht hängt nicht länger am Strick.
»Leiter einholen«, echot seine Stimme zu uns herauf.
Wir rollen den Strick auf den Krückenstutzen, legen uns an die Öffnung und spitzen die Ohren.
Rauschen. Ein Erdmännchen, das durch fließendes Wasser platscht. Krallen auf feuchtem Beton.
»Geil«, ruft Rocky, »ich kann schwimmen!« Von oben sehen wir, wie sich der Lichtstrahl seiner Stirnlampe über die schlierigen Wände tastet. »Alles voller Scheiße hier«, grummelt er. Kurz füllt ein bedeutungsvolles Schweigen den Tunnel. Dann ruft Rocky: »Ey, ihr Penner da vorne!«
Rufus und ich drehen einander die Köpfe zu. Sollten meine Augen gerade so aus den Höhlen treten wie seine, dann können wir sie gleich in der Kanalisation suchen.
»Hier stinkt’s ganz schön!«, dröhnt die Stimme unseres Bruders aus dem Tunnel. »Seid ihr das, die hier so rumfurzen?« Am Ende hat er den Gestank also doch noch bemerkt.
Die knarzige Stimme einer Kanalratte schneidet durch die Dunkelheit: »Was will’n der hier?«
Eine zweite Stimme fragt: »Bist du irgendwie … bescheuert oder so?«
Im Gegensatz zu den Ratten scheint Rocky nicht im mindesten irritiert zu sein. »Hab gehört, ihr habt meine Schwester ge… dingst – geklaut, meine ich.«
Seine Stimme entfernt sich langsam von uns. Wie auf ein vereinbartes Zeichen stecken Rufus und ich vorsichtig unsere Köpfe weiter durch das Loch und wagen einen Blick in die Unterwelt. Ratten. Große Ratten. Mit langen Schatten. Sehr große Ratten mit sehr langen Schatten. Von unserer Warte aus schätze ich, dass es fünf oder sechs sind. Ungefähr zehn Schritte vor Rocky hocken sie auf dem Begrenzungsstreifen, der neben dem Abwasserkanal entlangführt, und nagen an etwas herum. Der Gestank ist unerträglich.
»Und weiter?«, schnalzt eine besonders fette Ratte.
»Es gibt drei Möglichkeiten«, erklärt Rocky. »Ihr gebt sie freiwillig raus, oder ich hole sie mir.«
Die Ratten stecken ungläubig ihre Köpfe zusammen. Anschließend fragt die größte von ihnen: »Bist du da oben so was wie der Dorftrottel?«
Rocky geht so nah an die Ratte heran, dass er ihr auf die Pfoten spucken könnte. Das bringt Leben in den Pulk: Geräuschlos und wie von Geisterhand gesteuert, formieren sich die Ratten zu einem Dreieck – vorne der Stärkste,
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