Ausgefressen
ich ein Weichei. Denn in diesem Augenblick freue ich mich tatsächlich für diesen – wie haben die Ratten ihn noch genannt? – Dorftrottel.
Leider kann Rocky seinen Triumph nicht so auskosten, wie er das gerne würde, denn noch während der Clan Natalies geglückte Rückkehr in den Schoß der Familie feiert, bemerke ich etwas, das mir sehr sonderbar vorkommt. Eine Halluzination, denke ich. Die Explosion, der Stress, der Hormoncocktail in meinem Kopf … Alles mögliche Erklärungen. Nur: Wenn das da drüben wirklich eine Halluzination ist, dann fühlt sie sich verdammt echt an.
»Seht ihr das auch?«, frage ich.
Die anderen folgen meinem Blick. Dann passiert sehr lange sehr wenig.
Schließlich sagt Rufus: »Die Apokalypse …«
Und Ma meint: »Das gibt Ärger.«
Was passiert, ist, dass Nicole und Benjamin, die Elefantenkuh und ihr frisch geborener Filius, langsam aber unaufhaltsam im Boden versinken. Daran ändert auch nichts, dass Nicole schützend den Rüssel um ihren Nachwuchs legt. Papa Heiner steht am Rand und muss hilflos mit ansehen, wie sich ein Krater vor ihm auftut und seine Geliebte und seinen Sohn verschlingt, Stück für Stück, erst nur die Zehen, dann die Knie, die gesamten Beine, den Oberkörper. Am Ende schauen nur noch Nicoles Stirnhöcker aus dem Boden und, wenn sie ihn nach oben reckt, ihr Rüssel.
Während alles um mich herum im Chaos versinkt, die Besucher des Zoos panisch die Flucht ergreifen und in den Gehegen die von Rufus diagnostizierte Apokalypse losbricht, betrachte ich wie durch ein Fernglas den Krater, der sich im Elefantengehege gebildet hat, studiere die Erdschichten, die dadurch sichtbar geworden sind, und bemerke schon wieder etwas Seltsames.
»Rufus?«, sage ich.
Mein kleiner Bruder ist noch vollständig in den Ereignissen der letzten Minuten gefangen. Außerdem hat er, genau wie ich, ein Explosionstrauma und kann mich nicht hören.
Ich bringe meine Schnauze direkt an sein Ohr: »Rufus!«
Er fuchtelt sich hektisch im Gesicht herum. »Hier.«
»Ich glaube, da guckt eine Hand aus der Erde.«
Als am Abend Phil auftaucht, ist der Bereich um das Elefantengehege weiträumig abgesperrt. Die Stadtverwaltung versucht gerade, einen Hebekran aufzubauen, mit dem man hofft, Nicole und ihren Sohn bergen zu können. Das Unterfangen erweist sich jedoch als einigermaßen schwierig, weil niemand weiß, wie tragfähig das Erdreich im Umkreis des Kraters ist, und außerdem seit der Explosion im gesamten Zoo der Strom ausgefallen ist. Auch die S-Bahn musste vorübergehend ihren Dienst einstellen, fährt aber inzwischen wieder.
Die Hand, die aus der Erde ragt, hat übrigens noch immer niemand bemerkt. Nicole und der kläglich jammernde Benjamin haben alle vollständig in Anspruch genommen. Wir dagegen wissen inzwischen, dass an der Hand eine Leiche dranhängt. Und dass es noch eine zweite und eine dritte Leiche gibt. Kaum hatte sich heute Mittag der Rauch verzogen, legte der unersättliche vierte Wurf die noch intakten Tunnelsysteme frei und arbeitete sich bis unter das Elefantengehege vor. Und siehe da: Da drüben gibt es drei Leichen. Das Problem ist: Alle drei zeigen Spuren fortgeschrittener Verwesung. Der alte Hanno von Sieversdorf scheint spurlos verschwunden zu sein.
Noch etwas anderes bereitet mir Sorgen. Ich fürchte, dass der Zoodirektor langsam Verdacht schöpft. Bestimmt eine halbe Stunde lang ist er vor unserem Gehege auf und ab patrouilliert und hat uns stirnzerfurchte Blicke zugeworfen. Wir haben versucht, Normalität vorzutäuschen, doch wem gelingt das unter diesen Umständen schon?
Phil quatscht eine ganze Weile mit dem Direktor, bevor er zu unserem Gehege rüberkommt. Wie üblich stützt er sich auf das Geländer und tut so, als betrachte er den Sonnenuntergang.
»Hallo«, sagt Phil.
»Hi«, antworte ich, noch immer ein Fiepen im Ohr.
»Habt ihr irgendwas damit zu tun?«
»Womit?«
Phil blickt sich um: »Was könnte ich wohl meinen?«
»Das Loch im Elefantengehege?«, schlage ich vor.
»Nett von dir, dass du es als Loch bezeichnest – wo es doch aus der Warte eines dreißig Zentimeter großen Erdmännchens wie ein Meteoriteneinschlag wirken muss.«
Ich antworte nicht.
»Also?«, fragt Phil.
»Also was?«
»Habt ihr etwas damit zu tun?«
»Ich glaube nicht, dass ich mit dir darüber reden möchte.«
Phil stößt geräuschvoll seinen Atem aus: »Die Sache läuft langsam aus dem Ruder.«
Was soll ich da sagen?
»Wie sieht’s mit meiner Leiche
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