Ausgefressen
den Grundbestand der Sippe gefährdet, klingt nicht gut. Das kapiert sogar Roxane. »Erinnerst du dich an das Ding, das du vorhin aus dem Weg räumen wolltest?«, fragt mich Rufus.
»Die Trainingshantel? Ich bin froh, dass du dich noch daran erinnerst.«
»Das war keine Trainingshantel – das war eine Handgranate.«
Noch mehr Ratlosigkeit. Auf den ersten Gesichtern macht sich Angst breit. Handgranate. Das Wort haben die meisten schon mal gehört. Aber was genau so ein Ding macht, weiß keiner.
Pa scannt den Himmel: »Wir müssen etwas unternehmen«, verkündet er. »Bis Sonnenuntergang muss eine Lösung gefunden werden. Wir können nicht im Freien übernachten.«
Könnten wir natürlich schon. Schließlich ist das hier ein Zoo und nicht die Savanne. Aber das zu erklären würde uns vom eigentlichen Problem wegführen.
Schweigen.
Das hält Rocky nicht lange aus: rumstehen, während andere nachdenken. »Ich mach das«, entscheidet er, prüft seinen Bizeps und steuert den Höhleneingang an.
»Rocky?«
Er dreht sich zu mir um: »Hm?«
»Könntest du dir vorstellen, uns noch kurz zu sagen, was genau das ist, was du machen willst – bevor du es machst?«
»Ich geh zu den Ratten und hole Natalie. Wieso – was hast du denn gedacht?«
»Ehrlich gesagt: Ich hab genau das gedacht. Nur weiß ich nicht, ob das wirklich so eine schlaue Idee ist. Es gibt möglicherweise
sehr viele
Ratten da unten. Mit möglicherweise
sehr vielen
Waffen …«
Diese Vorstellung scheint meinen Bruder nicht zu schrecken: »Hat jemand eine bessere Idee?«, fragt er.
Rufus hätte gerne eine. Oder würde sich Rocky wenigstens gerne anschließen und zurückkehren als Held, mit einer dankbar lächelnden Natalie über der Schulter, die er aus den Fängen der Berliner Kanalratten befreit hätte. Oder eben nicht zurückkehren und als Märtyrer in die Erdmännchen-Annalen eingehen. Doch er schafft es nicht. Zu viel Schiss. Bereits der Gedanke daran, in unbekanntes Territorium vorzustoßen und die Kanalisation zu betreten, lässt sein Blut gefrieren. Und da ist noch nicht einmal eine Ratte aufgetaucht.
»Also niemand«, schließt Rocky befriedigt.
»Warte.« Rufus stemmt sich auf die Beine. Ich glaube es nicht: Offenbar will er tatsächlich in die Erdmännchen-Annalen eingehen. Doch dann sagt er nur: »Ich gebe dir noch was mit.«
»Ich bin nicht sicher, ob es wirklich funktioniert«, erklärt Rufus und befestigt einen schwarzen Plastikknochen an dem Klettband, das sich um Rockys Brust spannt, »aber ich hab es mit neuen Batterien bestückt. Daran sollte es also nicht liegen.«
Wir befinden uns in den Tiefen des noch im Bau befindlichen Asservatensaals, über den niemals jemand anderer als Rufus den Überblick haben wird. Er hat für Rocky eine Stirnlampe zusammengebastelt, ihm einen Brustgürtel umgelegt und jetzt, wie erwähnt, dieses schwarze Ding daran befestigt.
Rocky legt seine Klauen um das Gerät und beäugt es. »Und wo stecken sich die Menschen das rein?«
»Gar nicht«, erwidert Rufus. »Das ist nicht das Ding aus ›Sado-Maso-Safari II ‹, sondern …«
»Du hast schon Teil zwei gesehen?«, unterbricht ihn Rocky.
»Ist doch jetzt ganz egal«, wiegelt unser Schöngeist ab. »Das hier ist jedenfalls ein Elektroschocker. 200 000 Volt. Ruft bei Menschen vorübergehende Lähmungserscheinungen hervor und hat bei Ratten – und Erdmännchen! – ziemlich sicher den sofortigen Tod zur Folge. Was übrigens auch der Grund dafür ist, weshalb wir seine Funktionstüchtigkeit nicht vorab überprüfen können.«
Er erklärt Rocky, wie der Schocker funktioniert, wie er eingeschaltet wird, wie er ihn halten muss und vor allem, dass er wirklich sehr, sehr gefährlich ist. Rocky schaltet ihn ein und aus und ein und aus und ein und aus. Und ein. Und aus. Jedes Mal, wenn er den Kippschalter betätigt, fängt das Plastikgehäuse leise an zu summen. Rufus und ich treten unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Verstehe«, sagt Rocky, schaltet den Schocker ein und besieht sich die beiden Metallspitzen, »und das da sind die Kontakte.«
»Rocky!«, ruft Rufus.
Unser Bruder schaltet den Schocker wieder aus: »Bin doch nicht bescheuert«, behauptet er.
Rufus und ich sehen einander an, sagen aber nichts. Ich erwähne das, weil wir uns denselben Blick gleich noch einmal zuwerfen werden. Gemeinsam wenden wir uns dem Ausgang zu. Dabei bleibt der Lichtkegel von Rockys Lampe an der Hantel hängen, die ich vorhin hereingerollt habe und von
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