Ausgeliefert: Roman (German Edition)
Ray kam nicht. Er würde auch nicht kommen.
Reacher vermied die Lichtung. Er hielt sich zwischen den Bäumen. Er machte einen Bogen um das gerodete Waldstück und ignorierte die ausgetretenen Wege. Wegen der Hunde machte er sich keine Sorgen. Man hatte sie nicht losgelassen. Fowler hatte davon geredet, dass Berglöwen unterwegs seien. Niemand lässt nachts die Hunde hinaus, wenn er weiß, dass Berglöwen auf der Pirsch sind. Das wäre die sicherste Methode, um am Morgen keine Hunde mehr zu haben.
Er ging um die ganze zwischen den Bäumen versteckte Bastion herum. Alle Lichter waren ausgeschaltet, und die Anlage lag in völliger Stille da. Er wartete zwischen den Bäumen hinter der Kantine. Die Küche war eine quadratische Hütte, die nicht sonderlich geschickt hinten am Hauptgebäude angebaut war. Es brannte kein Licht, aber die Tür war offen, und die Frau, die ihm am Morgen das Frühstück gebracht hatte, wartete im Schatten. Er beobachtete sie aus dem Schutz der
Bäume. Wartete fünf Minuten. Dann sechs. Nirgends eine Bewegung. Er warf seinen Stein ein Stück links von ihr auf den Weg. Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen. Er rief leise. Sie kam aus den Schatten. Allein. Sie ging zu den Bäumen hinüber. Er griff nach ihrem Ellbogen und zog sie in die Dunkelheit.
»Wie sind Sie dort rausgekommen?«, fragte sie ihn flüsternd.
Es war unmöglich festzustellen, wie alt sie war. Vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht fünfundvierzig. Sie war hübsch, schlank, langes glattes Haar, aber abgehärmt und sichtlich von Sorgen geplagt. Aber ein Funken Widerstandskraft und Mut war in ihr verblieben. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie vor hundert Jahren hinter einem Planwagen den Oregon Trail hinuntergestiegen war.
»Wie sind Sie rausgekommen?«, flüsterte sie erneut.
»Ich bin zur Tür hinausgegangen«, erwiderte Reacher, ebenfalls im Flüsterton.
Die Frau sah ihn mit ausdrucksloser Miene an.
»Sie müssen uns helfen«, flüsterte sie.
Dann rang sie die Hände und drehte den Kopf nach links und rechts, spähte verängstigt in die Dunkelheit.
»Wie helfen?«, fragte er. »Warum?«
»Die sind alle verrückt«, sagte die Frau. »Sie müssen uns helfen.«
»Wie?«, wiederholte er.
Sie verzog bloß das Gesicht und stand mit gespreizten Armen da, als ob das offensichtlich wäre oder als wisse sie nicht, wo oder wie sie anfangen solle.
»Ganz von Anfang an«, sagte er.
Sie nickte zweimal, schluckte, war sichtlich bemüht, ihre Gedanken zu sammeln.
»Leute sind verschwunden«, sagte sie.
»Was für Leute?«, fragte er. »Wie sind sie verschwunden?«
»Einfach verschwunden«, sagte sie. »Das ist Borken. Er hat alles an sich gezogen. Das ist eine lange Geschichte. Die meisten von uns waren mit anderen Gruppen hier oben, haben aus eigener Kraft überlebt, mit unseren Familien, wissen Sie? Ich
war bei den Northwestern Freemen. Dann ist Borken aufgetaucht und hat von Einheit geredet. Er hat sich mit den Führern der Gruppen angelegt, mit ihnen gestritten. Die anderen wollten sich seinen Ansichten nicht anschließen. Und dann sind sie allmählich verschwunden. Sie sind einfach weggegangen. Borken hat gesagt, sie könnten sein Tempo nicht mithalten. Sie seien einfach verschwunden. Und deshalb sollten wir uns ihm anschließen, sagte er. Wir hätten keine andere Wahl. Einige von uns sind hier mehr oder weniger Gefangene.«
Reacher nickte.
»Und jetzt passieren dort oben bei den Bergwerksschächten seltsame Dinge«, sagte sie.
»Was für Dinge?«, wollte er wissen.
»Ich weiß nicht«, erklärte sie. »Schlimme Dinge, denke ich. Wir dürfen dort nicht hin. Die sind nur eine Meile von hier entfernt, aber das ist eine Sperrzone. Heute ist dort irgendetwas geschehen. Die haben gesagt, sie würden alle im Süden arbeiten, an der Grenze, aber als sie dann zum Essen zurückkamen, kamen sie aus dem Norden. Ich habe sie vom Küchenfenster aus gesehen. Sie haben gelacht und gegrinst.«
»Wer?«, fragte Reacher.
»Borken und die, denen er vertraut«, sagte sie. »Er ist verrückt. Er sagt, sie werden uns angreifen, wenn wir unsere Unabhängigkeit erklären, und wir müssen uns wehren. Das soll morgen losgehen. Wir haben alle Angst. Schließlich haben wir Familien. Aber wir können nichts unternehmen. Wenn man sich gegen ihn stellt, wird man entweder verbannt oder er redet so lange auf einen ein, bis man sich seiner Meinung anschließt. Niemand ist ihm gewachsen. Er hat uns völlig unter Kontrolle.«
Reacher nickte
Weitere Kostenlose Bücher