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Ausgelöscht

Ausgelöscht

Titel: Ausgelöscht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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zu ihm hingezogen fühlte, weil der Verlust ihres Vaters sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Aber sie war nicht seine Patientin. Sie war eine Verdächtige. Er war ihr keine psychotherapeutische Beratung oder sonst etwas schuldig. Es stand ihm frei, sich ihre Bedürfnisse zunutze zu machen, um sie dazu zu bringen, sich ihm zu öffnen. Möglicherweise war genau das nötig, um diesen Mordfall aufzuklären. Notlügen des Herzens, im Dienste der Wahrheit. Es war nicht schön, aber es gehörte zu seiner Arbeit. Er ließ den Blick zu ihren Schenkeln wandern, gerade so lang, dass sie es bemerkte. »Bitte erzählen Sie mir alles«, sagte er. »Ich will Sie trösten.« Er wusste, dass sie nur die ersten drei Worte hören würde:
Ich will Sie
.
    Sie errötete und kaute an ihrer Unterlippe. »In der letzten Woche, als mein Dad noch lebte, war er sehr niedergeschlagen. Es war so, als ob er all die Energie, die ihn angetrieben hatte, plötzlich verloren hätte. Er sprach mit niemandem mehr. Selbst mit mir nicht.«
    Clevenger nickte. Er fragte sich, ob Lindsey doch noch immer an der Selbstmordhypothese festhielt.
    »Also hat Kyle beschlossen, Dads Pistole zu nehmen. Damit er sich nichts antun konnte. Zumindest hat er das behauptet.«
    Clevenger versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er das Gefühl hatte, der Fall komme nach langen verschlungenen Umwegen endlich zur Lösung.
    »Wie ist er an die Waffe gekommen?«
    »Dad hat sie immer am selben Platz aufbewahrt – ganz oben im Hemdenfach seines Kleiderschranks. Wir haben beide oft gesehen, wie er sie morgens von dort mit in die Arbeit nahm und abends wieder zurücklegte. Die Patronen hat er woanders aufbewahrt.«
    »Hat Ihr Vater sich nicht gefragt, wo die Waffe hingekommen ist?«
    »Kyle hat es ihm gesagt. Er hat ihm gesagt, dass er sie genommen hat – und auch warum.«
    »Und Ihre Mutter wusste Bescheid?«
    Lindsey nickte.
    Das könnte erklären, warum Theresa Snow versucht hatte, Clevenger davon abzuhalten, mit Kyle zu reden. »Wie erklärt Kyle, dass Ihr Vater mit eben dieser Waffe erschossen wurde?«
    »Er sagt, er hätte sie nur bis zum Abend davor gehabt. Er hat mir erzählt, dass Dad sie zurückgefordert hätte, dass er damit gedroht hätte, ihn wegen Verstoß gegen seine Bewährungsauflagen anzuzeigen. Also ist Kyle sauer geworden und hat sie ihm gegeben.« Tränen sprangen ihr in die Augen. »Er sagt, er hätte ihn angeschrien, er solle sich ruhig erschießen, wenn er denn unbedingt wolle.«
    »Glauben Sie ihm? Glauben Sie, dass er ihm die Pistole zurückgegeben hat?«
    Sie schlug ihr anderes Bein über, so, dass sie wieder Clevengers Blick auf sich zog. »Ich weiß nur, dass er die letzten Tage über glücklicher ist, als ich ihn je gesehen habe«, antwortete sie. »Und er sagt, er könne nicht zu Dads Beerdigung gehen. Er sagt, es wäre nicht ›ehrlich‹.«
    Sagte Lindsey die Wahrheit, oder versuchte sie, ihrem Bruder endgültig den Todesstoß zu versetzen, als Strafe dafür, dass er ihr etwas von der Zuneigung ihres Vaters gestohlen hatte? Wenn Clevenger ein bloßer Ersatz für Snow war, dann wünschte sich Lindsey vielleicht, dass er Kyle ins Gefängnis steckte, so wie Snow ihn einst in einen anderen Bundesstaat verbannt hatte. »Glauben Sie, dass Ihr Bruder Ihren Vater erschossen hat?«, fragte Clevenger.
    »Ich will es nicht glauben, aber …« Sie wandte den Blick ab.
    Er ließ einen Moment verstreichen. »Danke, dass Sie es mir erzählt haben, Lindsey«, sagte er.
    Sie sah ihn wieder an, neigte den Kopf zur Seite, so dass ihr seidiges Haar über eine Hälfte ihres Gesichts fiel. »Also, was geschieht jetzt?«
    »Ich werde der Sache mit Ihrem Bruder nachgehen, und dann sehen wir mal, wie es weitergeht.«
    »Und wie geht es mit
uns
weiter?«, fragte sie flehentlich.
    Clevenger wollte sie nicht verletzen. Das war kein notwendiger Bestandteil seiner Arbeit und sollte es auch nicht sein. »So hübsch Sie auch sind, Lindsey«, sagte er, so sanft er konnte, »und so sehr ich mir vielleicht auch wünsche, außerhalb meiner Praxis Zeit mit Ihnen zu verbringen, ich kann es nicht tun.«
    »Niemals?«
    Diese Frage machte deutlich, dass Lindsey bereit war, sehr, sehr lange auf ihn zu warten. Vielleicht sogar ewig. Und das verriet Clevenger von neuem, dass es bei ihrer Sucht, ihrem Verlangen nicht um Sex mit ihrem Vater ging, sondern um das
Potenzial
einer sexuellen Vereinigung mit ihm. Snow hatte sie an sich gekettet, indem er sie mehr als alle anderen verehrte,

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