Ausgelöscht
physikalischen Gleichungen aus. Darunter hatte Snow geschrieben: »Für jede Aktion gibt es eine ungleichartige und entgegengesetzte Reaktion.«
Clevenger blätterte um und erstarrte. Etwa auf halber Höhe auf der rechten Seite, umgeben von Berechnungen, war die fünf mal fünf Zentimeter große Zeichnung des Kopfes und der Schultern einer Frau – Grace Baxters. Snow hatte offensichtlich lange daran gearbeitet, hatte sich die Mühe gemacht, ihr Haar, ihre Augen, ihre Lippen zu schattieren, die Feinheiten ihrer Schönheit einzufangen.
Das Porträt war erfüllt von all der Passion, die nicht nur Snows Skizzen und Berechnungen, sondern auch seine geschriebenen Worte vermissen ließen. Es ließ große Leidenschaft erkennen.
Clevenger blätterte Seite um Seite um – noch mehr Zylinder und Zahlen, noch mehr philosophische Betrachtungen.
Er sah auf die Uhr. 9 Uhr 47. Er ließ den Motor an, fuhr zur Brattle Street und hielt vor Nummer 119, einer majestätischen Backsteinvilla im Kolonialstil auf einem Grundstück von einem Viertel Hektar, hinter einer fünfzig Meter langen Steinmauer und einer halbrunden Auffahrt, auf die mächtige Eichen ihre Schatten warfen. Das Anwesen musste mindestens fünf Millionen Dollar wert sein. Ein Mercedes, ein Land Cruiser und drei Streifenwagen parkten davor.
Clevenger stieg aus und ging zur Haustür. Ein Cop namens Bob Fabrizio stieg aus seinem Streifenwagen und kam auf ihn zu. Clevenger kannte ihn von einem anderen Fall, an dem er in Cambridge gearbeitet hatte – ein Harvard-Professor, der seine Frau ermordet hatte. »Das nenne ich Polizeipräsenz«, bemerkte Clevenger.
»Bezahlter Überwachungsdienst«, erwiderte Fabrizio. »Die Witwe fühlt sich bedroht.«
»Genug, um drei Streifenwagen anzufordern.«
»Vier. Wir hatten nur drei verfügbar.«
»Ich schätze, man kann es ihr nicht verdenken«, sagte Clevenger. »Ihr Mann wurde vor dreißig Stunden erschossen.«
»He, gegen die Extraarbeit hab ich nichts einzuwenden«, sagte Fabrizio. »Aber es verleiht der ganzen Sache ein gewisses O. J. Simpson-Flair, wenn Sie mich fragen.«
»Soll heißen?«
»Vier Streifenwagen? Was denkt sie denn, wer es auf sie abgesehen hat, der verdammte Mossad? Sie fanden es ja selbst merkwürdig. Vielleicht ist das hier alles nur Schau. Vielleicht will sie verängstigt
aussehen
, damit niemand sie zu genau unter die Lupe nimmt – oder ihren Sohn.«
»Ist er Ihnen bekannt?«
»Mir und jedem anderen Cop in Cambridge. Zwei Festnahmen wegen Kokain-Besitz. Eine Festnahme, Körperverletzung. Eine für groben Unfug. Hat mit einer Bombendrohung bei seinem Internat in Connecticut angerufen. Er hatte irgend so einen selbst gebastelten Sprengsatz bei sich, mit dem er nicht mal ein Kaminfeuer hätte anzünden können. Alle Anklagen hat man entweder fallen lassen, oder sie sind im Sande verlaufen. Clevere Anwälte. Im Grunde ist er nichts weiter als ein Hitzkopf, aber man kann ja nie wissen. Ich meine, entweder hat dieser Snow sich selbst umgebracht, oder er wurde von jemandem mit Zugang zu seiner Waffe ermordet. Wie auch immer, mein Instinkt sagt mir, die Suche sollte in diesem Haus anfangen.«
»Danke für die Konsultation.«
»War gratis. He, wie läuft’s mit Billy?«
»Gut«, sagte Clevenger, etwas verblüfft von Fabrizios Interesse. Manchmal vergaß er, dass Billy durch den Mordfall auf Nantucket, der seine kleine Schwester das Leben gekostet hatte, berühmt geworden war. Sobald sein Name rein gewaschen war, hatte praktisch jede überregionale Zeitung und Zeitschrift einen Artikel über ihn gebracht. Und als Clevenger ihn adoptierte, hatte die Sensationslust der Presse kein Halten mehr gekannt.
»Freut mich zu hören«, sagte Fabrizio. »Wir drücken ihm alle die Daumen.« Er ging wieder zu seinem Streifenwagen zurück.
Clevenger trat vor die Haustür und klingelte. Es dauerte eine Weile, doch schließlich machte eine sehr hübsche junge Frau mit langen brünetten Haaren und dunkelbraunen Augen auf. Sie trug einen eng anliegenden schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt und noch engere Levis. Sie musste so um die zweiundzwanzig, dreiundzwanzig sein. »Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie.
»Ja, stimmt«, antwortete er und streckte ihr die Hand hin. »Frank Clevenger.«
Sie schüttelte halbherzig seine Hand und ließ schnell wieder los. »Mum wartet im Wohnzimmer auf Sie.«
War sie wirklich erst achtzehn?, ging es ihm durch den Sinn. »Sind Sie John Snows Tochter?«
»Lindsey.«
»Mein herzliches
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