Ausgelöscht
guter Ehemann, trotz seines Narzissmus?«, fragte er.
Sie starrte Clevenger lange mit ausdruckslosem Gesicht an. »Er war
mein
Mann«, sagte sie schließlich. »Er war nicht so perfekt, wie er glaubte. Aber ich habe ihm seine Fehler verziehen. Ich habe nicht von ihm erwartet, normal zu sein. Er war außergewöhnlich.«
Das beantwortete Clevengers Frage nicht. »Ich hatte mich nur gefragt, ob Sie beide sich verstanden haben«, hakte er nach. »Am Morgen der Operation hat ihn sein Chauffeur zum Krankenhaus gefahren.«
»Und?«
»Ich habe mich gefragt, warum.«
Zum ersten Mal schien Theresa Snow ein wenig verärgert. »Sie fragen sich das, weil Sie innerhalb Ihres eigenen Bezugsrahmens denken«, sagte sie. »Sie glauben, wenn ein Mensch den Gefahren einer Operation entgegensieht, sollte seine Familie an seiner Seite sein – wortwörtlich. Die meisten Menschen teilen diese Sichtweise. Auch ich. John dagegen hielt sich für unverwundbar. Er hätte niemals zugelassen, dass ich oder die Kinder ihn in einem Moment der Schwäche oder Angst sahen, ob vor oder nach der Operation. Der Beistand, den wir ihm leisten konnten, war, ihn in Frieden zu lassen. Er hat mir gesagt, dass Pavel ihn fahren würde, und ich kannte ihn zu gut, um mich seinen Wünschen zu widersetzen.«
»Sonst hätte er so getan, als würden Sie nicht existieren?«
»Ich war zufrieden damit, ihm einen Abschiedskuss zu geben und ihm alles Gute zu wünschen.«
»Sie haben den Mann, mit dem Sie verheiratet waren, sehr gut verstanden.«
»Ich bin nicht sicher, ob irgendjemand ihn verstanden hat. Ich habe ihm seine Unzulänglichkeiten nachgesehen. Das mag selbstsüchtig von meiner Seite aus gewesen sein.«
»Warum sagen Sie das?«, wollte Clevenger wissen.
»Ich habe ein Genie geheiratet. Ich habe es nie bereut. Was John an zwischenmenschlichen Fähigkeiten fehlte, machte er mit seinen intellektuellen Fähigkeiten mehr als wett. Manchmal war seine Intelligenz buchstäblich beängstigend. Es war atemberaubend, ihr nah zu sein. Ich kann es nicht richtig beschreiben. Ich schätze, es ist ein wenig so, als würde man einer Naturgewalt gegenüberstehen. Einem Sonnenaufgang. Einem Sturm. So als würde man an einem Strand leben, gänzlich in den Bann geschlagen von den Wellen, die ohne Vorwarnung die Fundamente Ihres Hauses fortspülen können. Aber für meine Tochter war das nicht zu akzeptieren, und trotzdem musste sie mit unter unserem Dach leben. Ich glaube, das hat es ihr sehr schwer gemacht.«
»In welcher Hinsicht?«
»Der beständige Druck, perfekt zu sein«, sagte Snow. »Sie kann sich glücklich schätzen. Sie ist wunderschön, und sie besitzt einen Verstand, der dem ihres Vaters beinahe ebenbürtig ist – wenn sie sich dazu herablässt, ihn zu benutzen. Er hat sie vergöttert. Aber ich glaube, das ständige Bemühen, ihm zu gefallen, war eine große Last für sie. In jüngster Zeit hat sie sich nicht mehr ganz so bemüht, und die Dinge liefen weniger gut.«
»Was hatte sich geändert?«
»Ich glaube, sie war abgelenkt, im besten Sinne des Wortes. Sie hat sich ganz aufs Lernen konzentriert.« Sie lächelte, beinahe verlegen. »Und ich habe das Gefühl, dass sie endlich angefangen hat, sich für das andere Geschlecht zu interessieren.« Das Lächeln erlosch. »Früher waren sie und John unzertrennlich, so als wäre sie sein Schatten. Sie machte ihre Hausaufgaben in seinem Arbeitszimmer hier im Haus, während er seine eigenen Arbeiten erledigt hat. Sie hat ihn mehrmals täglich bei Snow-Coroway angerufen, um ihm zu erzählen, was sie gerade tat. All das hat aufgehört.«
»Und was ist mit Ihrem Sohn? Wie war das Zusammenleben mit Ihrem Mann für ihn?«
»Bei ihm ist es eine gänzlich andere Geschichte.« Ihr Gesicht verriet eine Mischung aus Traurigkeit und Frustration. Sie seufzte. »Kyle ist es nie gelungen, die Liebe seines Vaters zu gewinnen, so sehr er sich auch bemüht hat.«
»Und warum das?«
»Er hat … eine Lernschwäche.«
Es schien ihr zu widerstreben, die Dinge beim Namen zu nennen. »Legasthenie?«
»Das, und Probleme mit der Konzentration.«
»Wie hat sich das auf seine Beziehung zu Ihrem Mann ausgewirkt?«, fragte Clevenger. Er kannte die Antwort bereits von den psychodiagnostischen Tests in Snows Krankenakte. Snows Besessenheit von Schönheit, Stärke und Intelligenz ließ nicht viel Raum für ein Kind mit »Lernschwäche«.
»John betrachtete Kyle als defekt. Als Säugling und als Kleinkind war er ganz vernarrt in ihn.
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