Ausgelöscht
heraushören. Sie klang wie eine Nachrichtensprecherin, die einen Nachruf auf einen berühmten Politiker vortrug, über den sie zwei Jahrzehnte lang berichtet hatte. »Selbstbesessene Menschen sind nicht immun gegen Selbstmordabsichten«, sagte Clevenger. »Manchmal können sie die Kluft zwischen dem Bild, das sie von sich selbst haben, und dem Bild, das die Welt von ihnen hat, nicht ertragen.«
»Das mag auf jemanden zutreffen, der sich um die Welt um ihn herum schert«, entgegnete sie. »Aber John hat niemandem diese Macht über sich gegeben. Er hat sich nie gefragt, ob seine Ansichten und Gefühle in Bezug auf sich oder irgendjemand anders gerechtfertigt waren. Vielleicht habe ich ihn deshalb nie depressiv erlebt. Er war immer überzeugt, dass die Probleme in seinem Leben außerhalb von ihm ihren Ursprung hatten, nie in ihm.«
»Wurde er schnell wütend?«
»Er war leicht reizbar.«
»Wie hat sich das ausgedrückt?«, fragte er. Er blickte abermals auf das Gemälde.
»Indem er Menschen das Gefühl gab, tot zu sein«, antwortete sie.
»Wie bitte?«, fragte Clevenger und sah sie an.
»Wenn Sie nicht Johns Vision der Realität entsprachen, hat er Sie schlicht so behandelt, als ob
Sie
nicht real wären. Es gab Zeiten, als wir noch frisch verheiratet waren, da haben wir uns manchmal gestritten –über ganz unbedeutende Dinge –, und dann hat er wochenlang nicht mit mir gesprochen. Er hatte die Fähigkeit, so zu tun, als ob sein Gegenüber sich in Luft aufgelöst hätte.«
Was, genau betrachtet, das war, was John Snow in Bezug auf alle Menschen in seinem Leben vorhatte – mit Hilfe von Jet Hellers Skalpell. Clevenger brauchte Theresa Snow nicht zu fragen, warum sie über zwanzig Jahre mit einem so selbstbesessenen Mann verheiratet geblieben war: Die einzig überzeugende Antwort war, dass sie psychologisch zu keiner tiefer gehenden Beziehung fähig war. Das Leben mit Snow hatte ihr das ganze Drum und Dran von Familie gegeben, einschließlich eines luxuriösen Heims und Kindern, aber dafür musste sie in Kauf nehmen, auf der Gefühlsebene nichts zu bekommen. Ein solcher Kuhhandel kann erfolgreich eine Ehe zwischen zwei emotional gestörten Menschen tragen, er kann aber auch zum Nährboden von Problemen werden: Wenn Theresa Snow zu der Überzeugung gelangt war, dass ihr Mann mit jemand anders echte Intimität gefunden und so gegen ihren Kodex gemeinsamer Isolation verstoßen hatte, könnte sie Angst bekommen haben, dass nur sie als gebrochene Seele gebrandmarkt wäre und allein in ihrer Einsamkeit zurückbleiben würde. Und darüber hätte sie sehr zornig werden können.
Clevenger fragte sich, wie gut, falls überhaupt, Snows Frau über Grace Baxter Bescheid wusste. Und diese Frage ließ ihn erkennen, warum ihm das Gemälde über dem Kaminsims so vertraut vorgekommen war. Es erinnerte ihn an Grace. Aber nicht als Tote. Sondern so wie auf der Zeichnung, die er in John Snows Tagebuch gesehen hatte. Snow hatte Graces Kopf und Schultern aus genau derselben Perspektive gezeichnet. Er war unverfroren genug gewesen, ihr Porträt in seinem Heim aufzuhängen.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte Theresa Snow.
»Wie bitte?«
»Das Gemälde«, sagte sie. »Sie scheinen sehr davon beeindruckt.«
»Es ist ein erlesenes Werk.«
»John hat sie gefunden.« Sie sah über die Schulter auf das Porträt. »Sie ist wunderschön, nicht wahr?«
Stellte sie sich nur dumm und spielte eigentlich auf Grace an, fragte Clevenger sich.
»Der Künstler stammt aus dieser Gegend«, fuhr Theresa Snow fort. »Ron Kullaway.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung über Clevengers Schulter. »Das ist auch von ihm.«
Clevenger sah hinter sich, auf das Gemälde über dem anderen Kaminsims, eine Winteransicht der öffentlichen Eisbahn im Public Garden, überfüllt mit Schlittschuhläufern. »Bemerkenswert.« Er drehte sich wieder um.
»John hat sich nie sehr für Kunst interessiert, bis vor kurzem. Er hat sich sehr schnell zu einem großen Kenner entwickelt. Er hat mehrere bedeutende Werke angekauft.«
»Das muss schön für Sie beide gewesen sein«, sagte Clevenger, doch er hörte selbst, wie hohl seine Worte klangen.
»Ich glaube, John hat es viel Freude bereitet«, erklärte Theresa Snow tonlos. »Ich habe seine Leidenschaft nie ganz nachvollziehen können.«
Clevenger wollte Theresa Snow eine Brücke bauen, damit sie ihm gestehen konnte, dass sie über Grace Baxter Bescheid wusste – falls das so war. »Ihrer Ansicht nach war er also ein
Weitere Kostenlose Bücher