Ausgeloescht
versuche den Eindruck zu erwecken, als könnte ich nichts sehen. Zum ersten Mal erblicke ich Dali. Ich empfinde ein Hochgefühl und zugleich Enttäuschung.
Er ist ein kleiner Mann, trägt ein ausgebeultes Jackett über einem T-Shirt und weite Jeans in Wanderstiefeln. Er hat sich eine Skimaske über den Kopf gezogen, die sein Gesicht verbirgt. Er nähert sich mir mit der Schockpistole. Während ich weiter so tue, als wäre ich geblendet, suche ich nach anderen besonderen Merkmalen. Unmittelbar bevor er mir die Pistole an den Hals drückt, fällt mir etwas auf. Doch es ist nur undeutlich zu sehen, und ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe es noch nicht verarbeitet, als der Stromschlag mich auch schon durchrast. Ich stürze zu Boden, am ganzen Körper zuckend.
Er versetzt mir einen weiteren Elektroschock. Grau dringt in mein Sichtfeld, und jetzt bin ich wirklich blind.
Einen Augenblick später fühle ich einen Nadelstich, und in meinem Kopf explodiert weißes Licht wie eine Bombe. Ich stürze mitten hinein.
Wie letztes Mal liege ich mit dem Gesicht nach unten und bin gefesselt, als ich zu mir komme. Gegen meinen Willen schaudere ich bei dem Gedanken, wieder ausgepeitscht zu werden. Voller Panik frage ich mich, was ich getan haben könnte, dass ich eine Strafe verdient habe.
»Du wunderst dich wahrscheinlich, weshalb du hier bist, Nummer fünfunddreißig«, sagt er. »Keine Sorge. Ich habe dich nicht wegen eines Verstoßes hierhergebracht. Du bist eine Modelleinheit.«
Einheit. Nummer 35. Er lagert nur Fleisch.
»Du bist hier, weil ich dich um eine Entscheidung bitten werde. Du sollst entscheiden, wen ich unschädlich machen und freisetzen werde, dich oder Nummer sechsunddreißig.«
»Wer ist Nummer sechsunddreißig?«
»Der junge Agent, den ich nach dir hierhergebracht habe.«
Mein Herz setzt einen Schlag aus.
Leo?
»Unschädlich machen und freisetzen? Ich verstehe nicht...«
»Du hast gesehen, wovon ich rede. Dana Hollister ist ein Beispiel.«
Lobotomie.
Mein Magen rebelliert.
»Ich will diese Entscheidung nicht treffen.« Mein Mund ist voll Schleim und Galle. Ich zwinge mich, alles herunterzuschlucken.
»Wenn du nicht die Entscheidung triffst, fällt die Wahl automatisch auf dich.«
Ein Augenblick der Schwärze, beinahe wie Bewusstlosigkeit, zieht über mich hinweg. Die Welt besteht aus Watte.
»Wieso?«
»Ich werde noch immer gejagt. Ich muss diesen Leuten eine weitere Botschaft schicken.«
»Das wird nicht funktionieren. Man wird nicht auf Sie hören, begreifen Sie denn nicht? Was Sie mit einem von uns anstellen wollen, nützt Ihnen nichts. Sie können damit nichts ausrichten!«
»Es wird geschehen. Die Frage ist nur: Wer wird es sein?«
»Warum muss ich die Entscheidung treffen?«
»Ich habe eine Münze geworfen. Du hast gewonnen.«
Einen Augenblick lang kann ich nicht sprechen. Ein Schluchzen steigt mir in die Kehle. Ich kämpfe dagegen an.
»Wieso ... wieso bin ich hier, in diesem Raum?«
»Ich werde ihn hereinholen, und dann lasse ich euch beide fünf Minuten allein. Du kannst ihm sagen, welche Wahl du treffen wirst, oder auch nicht. Ich überlasse es dir. Über das Thema Flucht zu reden ist dir nicht gestattet. Wenn die fünf Minuten um sind, komme ich zurück. Ich bringe ihn wieder in sein Zimmer, und dann werde ich dich nach deiner Entscheidung fragen. Der Eingriff wird eine Stunde später vorgenommen.«
Ich fühle mich in die Ecke gedrängt und bin der Panik nahe. Ich kann kaum atmen.
Am schlimmsten von allem ist dieses Wort:
Eingriff.
Düster und steril. Ein nüchterner Begriff, der für den Verlust des Ichbewusstseins steht. Ein Wort wie ein Skalpell, hell funkelnd. Metall, geformt aus einem Albtraum.
»Warum lassen Sie uns Zeit miteinander?«
Das ist die eine Waffe, die ich noch habe, ob ich sie später noch einsetzen kann oder nicht: meine Fähigkeit, ihn zu begreifen. Wieso ist Dali Dali? Verbirgt sich hinter der Maske des Gewinnstrebens und der Nüchternheit vielleicht doch etwas, das im Dunkeln kichert und dem der Speichel aus dem Mundwinkel läuft? Oder ist es ein primitiveres Mantra:
Ich töte, also bin ich?
»Weil ich kein grausamer Mensch bin, Nummer fünfunddreißig.«
Es sind stets die Grausamen, die das Bedürfnis haben, das Gegenteil zu beweisen. Ich merke mir seine Antwort trotzdem. Entpersönlichung ist lebenswichtig für ihn. Das zu wissen, könnte nützlich sein.
Oder nur ein Gedanke, der mit dir in der Dunkelheit stirbt.
»Genug Fragen jetzt. Hast
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