Ausgeloescht
beneide ich ihn.
Die Dunkelheit, die Stille und Einsamkeit foltern meine schutzlose Seele.
Stimmt genau,
habe ich zu mir gesagt (am Tag? Oder in der Nacht?).
Die Seele.
Sobald man alle Lichter ausgeschaltet hat, der Körper nicht mehr zu sehen ist und man mit sich allein ist - was bleibt dann? Das Selbst-Bewusstsein, das »Ich«, das »Das, was ich bin«.
Wenn das nicht die Seele ist, was dann?
Ich möchte die Antwort gar nicht hören.
Hier und an ähnlichen Orten wie diesen kommt der Wahnsinn, weil man zu viel nachdenkt. Aber Nachdenken ist alles, was man tun kann. Es ist das Einzige, was einem nicht genommen werden kann. Das Problem ist nur: Wenn man erst einmal angefangen hat, ist es schwer, wieder damit aufzuhören. Wie eine Melodie, die einem nicht aus dem Kopf geht, können die Gedanken dahinrollen, sich auf alten Bahnen bewegen, immer der Straße folgen, und man sieht, wie die Sonne aufgeht und die Bäume vorüberziehen. Doch wenn die Sonne untergeht, stellt man fest, dass die Bremsen versagen. Die Gedanken kommen nicht zum Stehen, und man windet sich auf der Pritsche und flucht, wütet oder weint.
Von Anfang an habe ich mir Gedanken um Leo und Alan gemacht. Als dann die Minuten, Stunden, Tage vergingen und mein Zeitgefühl zu einem treibenden Etwas wurde, verspürte ich immer weniger den Wunsch, über einen von ihnen nachzusinnen.
Nur drei Wochen, und ich stehe bereits eine Hölle auf Erden durch, von der ich mir nie hätte träumen lassen, dass sie existiert.
Bei Verstand bleibe ich durch Tricks, die mir Barnaby Wallace beigebracht hat. Immer deutlicher erweist sich, dass das Geld für sein Seminar eine verdammt gute Investition gewesen ist.
»Angst entsteht aus zu wenig oder zu viel Gewissheit«, hatte Wallace gesagt. »Folter dient dazu, einem das eine oder andere vorzuenthalten oder auch beides. Der Folterer nimmt Ihnen die Gewissheit, indem er verschiedene Methoden anwendet.
Schlafentzug. Reizentzug. Sie haben weder Uhr noch Fenster und verlieren das Zeitgefühl. Er gibt Ihnen zu viel Gewissheit, indem er Ihnen ankündigt, Ihnen höllischen Schmerz zuzufügen, und dann hält er dieses Versprechen. Wie also begegnen Sie dieser Angst?« Er hielt inne und fuhr sich geistesabwesend mit der Hand über eine Narbe seitlich an seinem Hals. »Was die Wirkung der Folter angeht, müssen Sie eines begreifen: Irgendwann zerbricht jeder. Es gibt keine narrensichere Methode, für niemanden. Geben Sie einem Folterer genügend Zeit, und er zerbricht auch den Härtesten. Deshalb kann ich Ihnen nur beibringen, wie man diesen Punkt hinauszögert. Wie man ihn nach hinten verschiebt. Ob es bei Ihnen funktioniert?« Er zuckte mit den Schultern. »Jeder Mensch ist anders.«
Eine der Methoden, von denen er sprach, hatte mit einer Art Selbsthypnose zu tun. Er nannte es »eine Welt hinter den eigenen Augen erschaffen«. Er zeigte uns ein Video von einem Japaner, der tief in Meditation versunken war. Verschiedene Personen versuchten, ihn abzulenken, zuerst, indem sie ihm ins Ohr brüllten, dann schlugen sie ihm mit Brettern und Stangen auf den Rücken. Er blieb die ganze Zeit völlig ruhig, selbst dann noch, als Blut zu fließen begann.
»Das ist ein Extrembeispiel«, gab Wallace zu. »Dieser Mann hat in der Lotushaltung gesessen, seit er vier Jahre alt war. Aber das Prinzip bleibt. Damit lässt sich arbeiten.« Er lächelte dünn und schief. »Wir mögen Dinge, mit denen sich arbeiten lässt.«
Ich verdanke es Barnabys Lektionen, dass ich in der Dunkelheit nicht in eine endlose Leere treibe, aus der es kein Zurück gibt.
Alles ist schwarz, bis ich die Augen schließe, doch sobald sie geschlossen sind, geht das Licht an, oder die Sonne geht auf, oder der Mond steht am Himmel.
Manchmal werde ich mit Bildern und Eindrücken überschüttet, die seltsam und schön sind, aber keinen Sinn enthalten: ein Silo voller Sägemehl, das stark duftet; Äpfel mit süßen Druckstellen; frisch gemähter Weizen; ein blauer Frühlingshimmel.
Diesmal stehe ich auf einer Wiese. Es ist Mittag. Die Wiese ist voller Blumen. Sie stehen so hoch und dicht wie Weizen auf einem Acker und leuchten in allen Regenbogenfarben. Sie sind wunderschön. Mitten auf der Blumenwiese ist ein großer Kreis aus dem grünsten Gras, das ich je gesehen habe. Leiser Vogelgesang und das Säuseln von Wind sind die vorherrschenden Geräusche. Ich sitze im tiefen, duftigen Gras und spreche mit meinem ungeborenen Kind. Es ist weder ein Er noch eine Sie, nur ein
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