Ausgeloescht
mehr, und die Äste biegen sich knarrend im rauen, allgegenwärtigen Wind. Die Blumen sind fort. Am Horizont steht eine Staubwolke, Hunderte von Metern hoch, und wälzt sich langsam auf uns zu. Baby bleibt undeutlich und gesichtslos und ist in schummriges Licht getaucht, so wie alles andere. Leo wurde vor einer Woche vernichtet. Ich habe mich ihm vorgezogen, rede mir aber ein, dass ich seine Stelle eingenommen hätte, wäre ich nicht schwanger gewesen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es hält mich davon ab, mich umzubringen.
»Entscheide dich«, hatte Dali gesagt, sonst nichts.
Mit meinem Schweigen zögerte ich es hinaus. Ich wusste, was ich sagen würde, aber ich wollte es nicht sagen.
»Entscheide dich innerhalb von zehn Sekunden, sonst trifft es dich selbst«, drängte er.
»Zwingen Sie mich nicht dazu«, flüsterte ich. »Fünf Sekunden.« Vier. Drei. Zwei.
Und dann sagte ich: »Leo! Nehmen Sie Leo, Sie Dreckskerl.«
Ich brach in Tränen aus und hörte auch nicht auf zu weinen, als er meine Handgelenke befreite und mich in die Dunkelheit meiner Zelle schob, die nun mein Zuhause war.
Seither plagen mich furchtbare Schuldgefühle, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag. Ich träume von Leo. Von Tommy, Bonnie oder Alan träume ich nicht. Ich träume nur von Leo. Ich träume von seinem Lächeln und muss zusehen, wie es erschlafft, während ihm Speichel vom Kinn zu tropfen beginnt und seine Augen sich mit wogendem Nichts füllen. Ich schlafe auf dem Rücken liegend ein und erwache zusammengekrümmt wie ein Fötus.
Nichts hat sich an meiner Umgebung geändert. Ich atme Dunkelheit. Das Rechteck aus Licht erscheint dreimal am Tag. Ich esse. Ich scheide aus. Ich trainiere.
Unter der Sonnenfinsternis und den Sternen bei Tag spreche ich zu Baby, und ich träume von Leo, der vergessen hat, was ihn als Menschen ausmacht. Manchmal taucht in diesen Träumen auch Christa auf, seine Freundin. Sie zeigt anklagend mit dem Finger auf mich und lacht wie eine Hyäne, und dann hebt sie Leo auf wie ein Baby und flüchtet in einen Wald aus toten Bäumen. Ich suche nach den kleinen Siegen, zu denen Barnaby Wallace mir geraten hat, doch in diesen Tagen ist jeder Sieg bitter.
»Wann wirst du dich zeigen, Baby? Und was geschieht dann?«
Bei Alexa sah man mir die Schwangerschaft erst im vierten Monat an. Was wird Dali mit einer schwangeren Gefangenen anstellen? Hatte er schon damit zu tun? Ich bin mir sicher, und ich will die Antwort gar nicht wissen. Dali betet den Gott des Pragmatismus an. Er wird tun, was am kostengünstigsten ist.
»Vielleicht darf ich dich behalten.« Mir schaudert bei dem Gedanken, dass Dali fort ist, wenn bei mir die Wehen einsetzen. In der Dunkelheit zu entbinden, blind nach meinem Kind zu tasten, es an meine Brust zu führen, ohne je sein Gesicht gesehen zu haben.
»Bleibst du deshalb so undeutlich, Baby? Vielleicht kann ich dir keine Gestalt geben, weil ich nicht sicher bin, ob du jemals eine haben wirst.« Baby schweigt.
In meinem Traum stöhne ich. Ich bin umgeben von Schwärze. Dann reiße ich die Augen auf und erwache, wieder umgeben von Schwärze. Die Unwirklichkeit ist eine bessere Welt.
Ein weiterer Tag vergeht, ehe Dali wiederkommt. Das Licht blendet mich ein paar Sekunden lang, ehe er mich mit dem Elektroschocker betäubt. Ich stürze ins Nichts. Als ich aufwache, stehe ich ihm gegenüber. Der Tisch kann offenbar in eine senkrechte Position gekippt werden. Dali mustert mich. Er trägt seine Skimaske, Jacke und Wanderschuhe.
»Wie es aussieht, hattest du doch recht. Ich werde weiterhin gejagt, Nummer fünfunddreißig. Diese Leute sind hartnäckig.« Ich sage nichts. Ich habe zu große Angst.
»Du wirst zu einer Belastung für mein Geschäft. Ich muss dich loswerden.«
»Nein, bitte ...«, krächze ich. Das Entsetzen schnürt mir die Kehle zu.
»Du meinst, ich werde den Eingriff an dir vornehmen, Nummer fünfunddreißig? Aber nein, das werde ich nicht.«
Die Erleichterung, die mich erfasst, ist so tief, dass ich beinahe die Gewalt über meine Blase verliere. Mir wird klar, dass ich eher sterben würde, als in diesem Zustand mein Baby zur Welt zu bringen. Leo hatte recht.
»Werden Sie mich töten?«, frage ich.
»Nein, ich werde dich freisetzen.«
»Was bedeutet das?«
»Ich werde mir etwas nehmen, was mich an dich erinnert, Nummer fünfunddreißig«, fährt er fort, ohne auf meine Frage einzugehen. »Du wirst weiter deinen Beruf ausüben können, aber was ich tun werde, wird als
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