Ausgeloescht
bekommen, dann komme ich zurück.«
Er geht fort, und ich bleibe stehen und starre auf Leo. Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Er ist jung, zu jung. Bin ich je so jung gewesen? Ja. Ich war fast in seinem Alter, als Alexa zur Welt kam. Es kommt mir vor, als wäre es ein Lebensalter her.
Die Zeit vergeht. Leo öffnet die Augen und schließt sie wieder. Einige Minuten später schlägt er die Augen erneut auf und blinzelt, um den Nebel zu vertreiben. Ich wünschte, er könnte ewig schlafen, mit einem friedlichen Babygesicht.
»Es tut mir schrecklich leid, Leo.« Ich fange an zu weinen.
»Hallo ...«, sagt er mit schwerer Zunge. Verwirrung spiegelt sich in seinen Augen. »Was... ist hier los?«
Er ist bei Bewusstsein, aber sein Verstand arbeitet noch schwerfällig.
»Ich bin mir nicht sicher. Er gibt uns fünf Minuten zusammen. Keine Ahnung wieso.«
Ich weiß nicht, warum ich lüge. Ich habe noch keine Entscheidung getroffen, doch eine verschlagene Stimme kriecht in meinem Kopf herum, betörend und unrein, flüsternd und raunend:
Du hast dich noch nicht entschieden? Bist du dir sicher? Weißt du nicht längst schon, was du tun wirst?
»Wie geht es dir?«, frage ich.
»Beschissen. Ich ...« Er unterbricht sich, schluckt. »Ich rede viel mit mir selbst. Ich glaube, ich werde verrückt.« »Ja.« Meine Stimme versagt.
»Hör auf zu weinen, Smoky. Wir haben nur fünf Minuten. Verschwende sie nicht mit Heulen.«
»Du hast recht, Leo. Erzähl mir von deiner Freundin.«
»Christa?« Er lächelt. »Sie hat langes, weiches braunes Haar und grüne Augen. Eine verteufelte Kombination. Sie lacht viel. Und sie findet mich toll. Kluges Mädchen.« Das Lächeln verblasst. »Ich wollte um ihre Hand anhalten. Aber ich sehe sie wohl niemals wieder.« Er seufzt. »Ich hatte mich wirklich auf die Ehe gefreut. Ich wollte wissen, wie das so ist.« Er schaut zu mir hoch. »Wie ist es? Ist es cool?«
Entsetzt verkneife ich mir weitere Tränen. Ein Strom von Antworten jagt mir durch den Kopf. Wie ist es? Eine Sammlung von Augenblicken, die beständig vor mir herunterfallen wie die Blätter im Oktober, helloranges Glück, dunkelrote Wut, braune Normalität. Man teilt ein Bett, tagein, tagaus, bei Tränen und bei Sex, bei Lachen und bei Streit. Dieses Bett wird eine Insel, wo die Nacktheit eher wörtlich gemeint ist als konkret, ein Ort, wo die großen Entscheidungen getroffen werden, wo neues Leben gezeugt und wo man selbst erneuert wird.
Vor allem aber bedeutet Ehe, sofern sie funktioniert, dass man nicht allein ist.
»Ja«, sage ich, unfähig, Leo das alles mitzuteilen, »ja, es ist cool.«
Er nickt, die Wange an den Stahl gedrückt. »Das dachte ich mir.« Er schaut mich wieder an. »Ich muss dich etwas fragen, Smoky, und dann muss ich dir etwas sagen.«
Ich blicke zu der Kamera in der Ecke. »Wir sind nicht allein.«
»Das spielt keine Rolle. Versprich mir, Smoky ... wenn du hier herauskommst und ich ende so wie Dana Hollister, dann bring mich um. Ich will das meiner Familie nicht antun, nicht Christa und auch nicht mir selbst.«
»Bitte mich nicht um so etwas, Leo.«
»Wen soll ich denn sonst fragen?« Die Verzweiflung in seiner Stimme entspricht der Angst in seinen Augen.
»Okay«, sage ich, um ihn zu beruhigen. »Ich verspreche es.« Ich höre die leisen Geräusche, als Dali näher kommt. Leo hört sie ebenfalls. »Beug dich vor«, drängt er mich. »Ich will nicht, dass er es hört. Schnell!« Ich beuge mich zu ihm, sodass mein Ohr direkt vor seinem Mund ist.
»Es war Hollister«, flüstert er. »Hollister muss Dali etwas gesteckt haben. Sieh dir die Server an, mit denen Hollister gearbeitet hat. Lass ...« Seine Stimme bricht. »Lass jemanden, der sehr gut ist, einen Blick darauf werfen. Ich glaube, dort findest du etwas.«
»Aufstehen, Nummer fünfunddreißig«, befiehlt Dali, als er den Raum betritt. Ich küsse Leo auf die Wange und lege meine Lippen an sein Ohr. »Es tut mir leid, Leo. Es tut mir furchtbar leid.«
Was tut dir leid?,
fragt die verschlagene Stimme. Es sind nicht die letzten Worte, die ich zu Leo sage. Aber fast.
Kapitel 34
»Comes a Time,
Baby. Das hat Neil Young gesagt. Eine Zeit zu leben, eine Zeit zu sterben. Eine Zeit, um verdammt noch mal den Verstand zu verlieren.«
Baby ist still. Auf dieser Wiese gibt es kein Licht mehr. Die Sonne wird vom Mond verdeckt, an dessen kreisrundem Rand ein Licht hervorschießt und die Welt in sanft erhellte Schatten taucht. Die Bäume haben keine Blätter
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