Ausgeloescht
konnte ich natürlich nicht. Ich war ziemlich ungelenk, und das sagte ich ihr auch. Sie nahm meine Hand und führte mich ins Wohnzimmer. >Zum Lernen ist es nie zu spät!<, rief sie lachend.«
Er schweigt kurz, ganz in die Erinnerung versunken. »Mom hatte eine Menge Spaß. Jedenfalls, sie legte eine meiner CDs ein, und wir tanzten bis in den Nachmittag. Dad machte eine Doppelschicht, also waren wir allein.« Er zupft mit düsterem Gesicht am Knie seiner Hose. »Als es Abendessenszeit war, fing Mom wieder zu trinken an. Um sechs Uhr war sie aggressiv, um sieben Uhr hat sie geweint, um acht Uhr war sie besinnungslos. Frisch gepresster Orangensaft und Tanzstunden, gefolgt von Wodka, Kotze und Tränen, und das an einem Tag. Kummer und Feuer.«
»Genau die Geschichte musst du erzählen, wenn du auf diese Site gehst«, sagt Alan.»Sie ist wahr, und dann klingt sie auch wahr.«
»Verstehe.«
»Problematischer ist die Sache mit dem Kind«, sage ich. »Wir können kein Kind in die Operation hineinziehen.«
»Da hätte ich eine Idee«, sagt Leo. »Lass hören.«
»Was, wenn meine Exfrau das Kind abtreiben ließ?«
Ich widerstehe dem instinktiven Verlangen, mir die Hand auf den Bauch zu legen. »Und weiter?«
»Was, wenn sie das Kind vor der Scheidung abtreiben ließ, um Auseinandersetzungen über das Sorgerecht aus dem Weg zu gehen?«
Alan pfeift leise. »Ja, so was könnte einigen Hass wecken.«
»Es würde zum Rest meiner Geschichte passen«, fährt Leo fort und nimmt Fahrt auf, als er immer sicherer wird. »Es war mein Traum, eigene Kinder in einem guten Elternhaus großzuziehen, mit einem verlässlichen Vater und einer verlässlichen Mutter. Meine Ex hat das alles zerstört.«
»Ein guter Stressfaktor«, gebe ich zu.
»Genau das, was einen jungen Mann aus der Verzweiflung reißt und in lodernde Wut stürzt«, sagt Alan. Wieder klopft er Leo auf die Schulter. »Gute Arbeit. Du bist ein Naturtalent.«
Wir verbringen eine weitere Stunde mit dem Ausarbeiten der Einzelheiten. Bei einer guten Legende geht es nicht so sehr um das große Panorama, sondern um etwas, das einer meiner Ausbilder in Quantico als »Augenblicke unbestreitbarer Menschlichkeit« zu bezeichnen pflegte.
»Bei manchen Dingen, die man hört«, hatte er gesagt, »weiß man einfach, dass sie wahr sind. Das sind die Augenblicke unbestreitbarer Menschlichkeit. Zum Beispiel, wenn eine Figur in einem Buch uns gesteht, dass sie ihre Popel isst, ein Ehemann einen Orgasmus vortäuscht oder eine Frau ihrem ehebrecherischen Mann ein Sandwich macht und reinspuckt. Wir fühlen uns Menschen verbunden, die auch ihre Fehler haben. Es ist tröstlich für uns, dass auch andere ihrer Mutter einen Dollar aus dem Portemonnaie geklaut haben.«
»Ein anderer wichtiger Aspekt der Undercoverarbeit«, sagt Alan, »vielleicht sogar der wichtigste, ist Geduld. Verbrecher sind misstrauisch. Ihre erste Annahme wird sein, dass man dir nicht trauen kann. Du beweist ihnen das Gegenteil, indem du dich nicht zu eifrig gibst, sondern einfach nur deine Rolle spielst. Du tust nichts Außergewöhnliches, bis du es tust.«
»Was soll das heißen?«
»Menschen sind unberechenbar. Wer zu berechenbar ist, weckt Misstrauen. Der Bankangestellte, der sich auf die Toilette verdrückt, um sich ein Frauenhöschen anzuziehen, ist glaubhafter als der Bankangestellte mit einem Alkoholproblem.«
»Warum?«
»Die Leute mögen das Dramatische. Jedenfalls machst du hin und wieder etwas Unerwartetes. Nichts Großes, nur so viel, dass ihnen klar wird: Der Typ ist auch nur ein Mensch. Sehr gut wäre es, eine Verabredung nicht einzuhalten. Wenn er sagt: >Wir treffen uns morgen um vierzehn Uhr im Chat<, stimmst du zu, zeigst dich aber erst um sechzehn Uhr oder vielleicht erst am nächsten Tag. Wenn er fragt, was das soll, sagst du, du wärst eingeschlafen oder zu deprimiert gewesen oder ins Kino gegangen. Es verärgert ihn, und das macht dich real, verstehst du?«
»Ja, so langsam begreife ich.«
Callie platzt ins Büro. Sie bringt einen Stapel Unterlagen und hat eine junge Frau im Schlepptau. Die Frau ist im gleichen Alter wie Leo. Sie ist ungefähr eins sechzig groß, schlank und hat schulterlanges, dunkelblondes Haar.
»Ich habe alles, was wir brauchen«, verkündet Callie. »Wir können loslegen.« Ich ziehe eine Braue hoch. »Das ging aber schnell.«
»Unterschätze niemals die Macht meines Charmes.« Sie lässt die Unterlagen vor mir auf den Schreibtisch fallen, ohne auf Alans Schnauben zu
Weitere Kostenlose Bücher