Ausgerechnet Souffle'!
Tagen unerbittlich. Sie fühlt sich abgeschlagen und matt. Ihre Glieder schmerzen heftiger als sonst und manchmal prickelt Taubheit in den Gelenken, besonders aber in den Beinen. Oft schwindelt ihr so, dass sie es immer seltener schafft, sich aus dem Bett zu erheben. Trotz der späten Stunde drängt es sie, das Dokument sofort ihrem Verleger zu schicken. Sie wehrt sich bis heute standhaft gegen diese neumodische Erfindung des Internets. Gutes griffiges Papier begleitete sie ihr Leben lang. Bis zum Schluss sollte das so bleiben. Sie schraubt den Verschluss auf das betagte Werkzeug. Wer schreibt heutzutage noch von Hand. Doch ihre Rohfassungen brauchen kaum lektoriert zu werden. Louise von Stettens Romane sind in dem Kopf der alten Dame längst druckreif, ehe sie überhaupt die Worte auf die weißen Seiten fließen lässt. So gesteht ihr langjähriger Herausgeber es ihr zähneknirschend zu, dass er alle sechs Monate einen Packen handgeschriebener Bögen erhält. Sie schiebt das mit einer Kordel versehene Manuskript in einen festen, braunen Umschlag. Sodann setzt sie in klaren Buchstaben die Adresse ihres Verlags mit dem Vermerk „persönlich – Terminsache“ auf das Kuvert. Ein heftiger Hustenanfall schüttelt sie und sie ringt nach Luft. Kleine, rote Tröpfchen benetzen ihr Taschentuch, das sie achtlos auf den Boden wirft. Dann müht sie sich in ihren Mantel und bringt die Versandtasche zum Postkasten.
Louise sitzt an diesem Novemberabend noch lange in ihrem verschlissenen Lehnstuhl. Ihr Gesicht ist entspannt, zufrieden lässt sie den letzten Faden ihrer Geschichte los. Vorsichtig nippt sie an dem eleganten Likörglas. Sie betrachtet ihre blassen Finger mit den Blutergüssen und den geschwollenen Adern und Knoten. Seufzend erhebt sich die Dunkelheit aus den Ecken, um sich über den Raum zu senken. Die farbigen Muster der Tapete verblassen zu Grautönen. Stille legt ihre Hand auf die Flächen, dämpft jeden Laut. Louise schaltet den Ton des Fernsehers auf stumm, um ihrem eigenen, rasselnden Atem zu lauschen, während ihre Augen sich allmählich verschleiern. Über den Bildern der Sendung flimmert ein fiebriger Achtmillimeterfilm mit den Stationen ihres Lebens. Von irgendwo vernimmt sie Lachen, vertraute Stimmen. Louise von Stetten nickt ein. Ein Stöhnen entringt ihrer Brust und prallt gegen die Fensterscheibe wie ein verirrter Vogel. Sie wacht nicht mehr auf.
*
Louises Beerdigung ist genau so, wie sie es sich vorgestellt und vermutlich auch darüber geschrieben hätte. Sie wäre begeistert gewesen angesichts der Fülle morbider Klischees. Es regnet in Strömen. Die Temperatur fiel in der letzten Nacht gen null. Die Kälte knistert auf das Blattwerk der Beileidskränze und dem schlichten, grauen Marmorstein. Und nur wenige schwarze Menschen mit schwarzen Schirmen verharren an dem Grab, zittern und schaufeln tapfer Erde in das dunkle Loch, in dem Louise ungeduldig darauf brennt, dass sie uns alle los wird. Da liegt die vornehme, stets etwas hochmütige Alte, die mich auf jede erdenkliche Weise und bis zuletzt immer bis ins Mark verunsicherte. Louise mit den klaren, schilfgrünen Augen und dem spottenden Mund, der sich viel zu oft herabzog.
Heute weiß ich, dass es nicht das Leben ihr Leid zufügte. Sondern, dass der Schmerz ihre Realität bedeutete. Dankbar denke ich an die Frau, die mir aus Eigennutz versehentlich das Dasein rettete. Nimm es mir nicht übel, Louise, dass ich nicht weine. Aber ich verspreche Dir, Du wirst mir fehlen.
Als ich aufschaue, bemerke ich, dass Johannes und Linda neben mir stehen, beide formell in dunkler Kleidung, wie sich das gehört. Ich trage einen bunten Wollpullover unter meinem Regenbogenschirm. Ich bin sicher, mein Aufzug hätte Louise gefallen. Aus dem Kinderwagen tönt leises, unwilliges Wimmern. Linda beugt sich über das Gefährt und zieht die Regenhaube sorgsam etwas höher. Sie lächelt mir zu und schmiegt sich schutzsuchend tiefer in Johannes Schulterbeuge. Er reicht mir eine Plastiktüte. Ich schaue ihn traurig an und er nickt bloß. Drehen sich um und gehen.
Ich bleibe frierend im Regen zurück. In der Hand halte ich einen Umschlag und daraus lugt die Kopfzeile eines amtlichen Schriftstücks hervor. „Übereignungsurkunde“, steht da. Ich wende mich noch einmal dem schlichten Grabstein zu, bevor ich mich auf den Weg nach Hause mache. Nach Hause ins Cook & Chill.
Baabak wartet vor dem Friedhofstor, um seine ewig nasse Kundin abzuholen. Ich steige erleichtert
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