Ausgerechnet Souffle'!
Welt.
Meine Mutter meinte schon immer, aus ihrer Tochter hätte etwas Besseres werden sollen. Ihre Hände gestikulieren beständig ihr Missfallen angesichts meiner beruflichen Nichtentwicklung. Die Sätze, die sie mit flinken Fingern in die Luft schreibt, wimmeln vor grammatikalischen Fehlern. Aber sie drücken emotionale Wahrheiten aus. Martha Lehner kam aufgrund ihrer Gehörlosigkeit nie über eine Sonderschule mit wenig engagiertem Lehrpersonal hinaus, welchem sie ihre rudimentäre Schulbildung verdankt. Dennoch reifte sie in gewisser Weise zu einem klugen Menschen. Ihre sparsamen, reduzierten Worte vermögen mit dem Scharfsinn reiner Herzensbildung die Realität auszudrücken. Meine Mutter hat Liebe ohne Ende. Taktgefühl hingegen geht ihr völlig ab. Man verzeiht es ihr, stellt man fest, ihr entzieht sich das Wissen darüber. In ihrer stummen Welt sieht und fühlt sie dort, wo andere hören. Nimmt ebenso ungefiltert wahr, wie sie ihre Meinung kundtut. Als ungeduldiger, von Minderwertigkeitskomplexen geplagter Teenager hasste ich es. Pardon, Heranwachsende. Anglizismen und komplizierte Wortkonstrukte wie beispielsweise eben „Teenager“ vermeide ich, seit Mutti mich einmal verständnislos fragte, was der Genuss eines Heißgetränks mit der Jugend von heute zu tun hätte. Wohlwollend wies sie mich darauf hin, dass man Tee wohl tränke und nicht daran zu nagen beliebe. Ein Mensch sei ja schließlich kein Eichhörnchen.
Mit dem Synonym „Backfisch“ erlitt ich ebenfalls eine Niederlage. Mutti guckte mich verzweifelt an, als spräche ich koreanisch. Denke ich genauer nach, fällt es auch mir ehrlicherweise schwer, ein fetttriefendes Pressfischrechteck mit einem Mädchen in der Blüte seines Lebens zu assoziieren.
Mutters rechte Hand reckt sich in die Höhe. Dabei bilden Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Sie lacht und sieht aus wie ein junges Mädchen. Im Jahre 1971, so erzählt sie mir alle paar Monate und immer mal wieder, wurde sie sogar zur Schönheitskönigin erkoren. Bloß zur Heidekönigin, wohlgemerkt, gewählt von einer Hundertseelengemeinde irgendwo in Westfalen. Aber darauf kommt es nicht an. Ihre Augen leuchten, wenn sie auf das gerahmte Foto im Wohnzimmer zeigt. Von der elfenhaften, dunkelhaarigen Schönheit mit der hellen Haut blieb nicht allzu viel. Mutti isst gerne, was wirklich nicht zu übersehen ist. Die Haare trägt sie praktisch kurz. Die unsäglichen Dauerwellen, zu ihrer Zeit modern, hinterließen deutliche Spuren. Sehen kann sie auch nicht mehr so gut. Gerade hebt sie das Kinn über den Rand ihrer goldgefassten Brille und wiederholt ihre Geste.
„Gut!“
Das ist ihr einziger Kommentar zu meiner zusammengebrochenen Existenz. Das war ja einfach. Jetzt hadere ich mit dem schwierigen Teil. Es geht um keine geringe Summe und ich kann nicht garantieren, das Geld jemals zurückzahlen zu können. Diesbezüglich besitzt Mutti wenig Humor. Mein Vater beging den Fehler, sie zum einen schlecht zu behandeln und zum anderen gnadenlos zu unterschätzen. Ein Irrtum, für den er bezahlte. Und zwar viel. Es kostete ihn das Haus, das Auto und ein dickes Bankkonto. Dennoch lebt Martha Lehner heute in Verhältnissen, die den Betrachter täuschen. Sie ist eben eine bescheidene Frau.
Meine Mutter trägt die Verantwortung für jenen Teil meines Erbgutes, der mich ständig ans Essen denken lässt. Ihren emotionalen Reichtum kompensiert sie seit der erleichternden Trennung von ihrem Mann (der sie mit „Taschengeld“ und „Haushaltsgeld“ kurz hielt) mit Geschmacksweltreisen, ohne je ein Flugzeug zu betreten. Es wurde zu ihrem Hobby, den Duft aller Länder in ihren umfangreichen Küchenschränken einzufangen. Inzwischen übertrifft ihre Sammlung an Gewürzen jedes Sortiment eines Feinkost- oder Asialadens. Immer, wenn ich in ihrem Refugium eine Schublade öffne, riecht es wie Weihnachten. Unzählige Gläschen, Dosen und Fläschchen recken mir verlockend ihre Deckelchen entgegen und wispern köstliche Versprechen. Man möchte Stunden mit diesen Schätzchen verbringen.
Nur kochen will sie nicht. Das mag merkwürdig klingen, doch Mutti liebt eben das kulinarische Reisen an sich. Sie braucht den Flieger nicht zu steuern. Das überlässt sie anderen. Dass sie ihre Kochkunst an den
Nagel hing, bedauere ich zutiefst. Denn der Geschmack von perfekten, klassischen Rouladen ist der Geschmack meiner Kindheit. Natürlich kann ich mir heute in jedem beliebigen Brauhaus welche bestellen. Aber diese Rouladen
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