Ausgerockt - [Roman]

Bulle?«
    »Ja, genau.« Linus zog das schwere Transparent über den Betonboden zum Geländer. Er hoffte bloß, dass die Botschaft auch entsprechend würdig und geistreich war und nicht so was wie »Musik ist tot und lebt« oder »MTV raus aus Deutschland« darauf stand.
    »Dann mach die Mucke klar!«, rief Linus. »Ich knote das Transparent fest.«
    Holger verschwand wieder vom Geländer. Linus faltete das Transparent der Länge nach auseinander und fand schnell die kurzen Seile an einer Seite, die Holger angebracht hatte. Er knotete sie oben am Geländer fest.
    Holger und Linus mussten das Transparent jetzt nur noch zusammen anheben und über das Geländer schubsen, dann würde es sich mit einem Schwung aufblättern.
    »Fertig?«, hörte er Holger rufen.
    Er sah hinauf. Holger hatte das Megaphon ein Stück in die Mitte versetzt. Den Ghettoblaster hatte er dahinter auf einem Karton platziert.
    »Ich bin so weit.«
    Holger steckte sich die Fernbedienung des Ghettoblasters wie ein Kampfmesser zwischen die Zähne und kletterte über das Geländer. Dann ließ er sich fallen.
    Er ging direkt auf Linus zu und umarmte ihn. Dabei nuschelte er irgendwas, das Linus nicht verstand, weil er immer noch die Fernbedienung im Mund hatte. Es klang wie: »Nas is has de has his has schless ut.«
    Linus nickte und sagte: »Ja ja.«
    Holger löste die Umarmung, nahm die Fernbedienung aus dem Mund und ging zur linken Seite des Geländers. Linus nahm die rechte Position ein. Gleichzeitig griffen sie nach dem Transparent.
    In diesem Moment überkam Linus wieder die Angst, auf Holgers Plakat könnte etwas vollkommen Bescheuertes stehen, mit dem er von diesem Tag an für immer in Verbindung gebracht würde. Jetzt war es zu spät.
    Er sah Holger an und der guckte zurück und Holger rief: »Ich zähle von drei runter und zwischen zwei und eins mache ich die Mucke an!«
    Linus nickte. »Wehe, da steht Scheiße auf dem Plakat.«
    Holger grinste. »Keine Sorge, Alter. Das wird dir gefallen. Fertig? Also dann.«
    Linus warf einen Blick in den Himmel. Es war fast dunkel geworden, aber hinter den Wolken drang vom Horizont das Licht der Sonne hervor und ließ die Strukturen der Wolken gut erkennen.
    Linus atmete tief ein. Er roch den Duft der Stadt. Er bekam einen riesigen Hunger auf Bratnudeln mit Hühnerfleisch.
    »Hey.«
    »Hm?«
    »Hättest du nicht auch Lust auf Essen?«
    Holger sah etwas irritiert aus, schüttelte kurz den Kopf und fragte: »Fertig?«
    Linus nickte.
    »Drei!«, rief Holger.
    Wir könnten uns zum Essen noch zwei Flaschen Tiger-Bier dazubestellen, dachte Linus.
    »Zwei!«
    Holger hielt die Fernbedienung wie ein Zepter vor sich, sein Daumen schwebte über der Play-Taste. Er grinste diabolisch, dann drückte er, und als der erste Ton aus dem Megaphon kreischte, warf er die Fernbedienung mit einer lässigen Geste von sich.
    Linus sah ihr nach, und ein Schmerz in den Ohren machte ihm klar, dass das Megaphon die Musik durchaus bis nach unten zu den Leuten und Kameras transportieren würde.
    »Eins!«, rief Holger.
    Sie ließen los. Linus sah über das Geländer.
    Das Transparent entblätterte sich elegant.
    Die Musik war seltsam. Das war nicht Rage Hard . Auch keine bisher ungekannte Version davon. Linus kannte jede Version. Cindy Lauper hatte Rage Hard niemals gecovert.
    Holger sah regelrecht bedeppert aus, und er verharrte bewegungslos wie eine Statue.
    Er hatte den falschen Song gestartet.
    Und so standen sie da, alle beide, bewegunglos, beschämt, und das Megaphon verstärkte für alle in nerven- und ohrenzerfetzendem Kreisch-Sound Cindy Laupers Girls Just Wanna Have Fun .
    Und Linus sah Holger an. Und Holger sah Linus an. Und weil es ohnehin nicht mehr zu ändern war, weil Holger die Fernbedienung vom Turm geworfen hatte, weil sie längst auf den Steinen des Hanseatenkreuzes zersprungen war, richtete er sich auf, als hätte alles seine Ordnung. Stolz blickte er in den Himmel, als würde es überhaupt keinen Unterschied machen, ob hier nun Rage Hard oder Girls Just Wanna Have Fun gespielt würde.
    Wie ein siegesreicher Feldherr stand Holger da, schien mit sich und der Welt zufrieden und zeigte das schiefste Grinsen, zu dem er fähig war.
    Linus lehnte sich etwas über das Geländer. Er versuchte zu erkennen, was auf dem Transparent stand.
    Er musste sich weit vorbeugen, um etwas erkennen zu können.
    Dann sah er es.
    Er verharrte einen Moment, den Blick auf das Transparent gerichtet.
    Er schloss die Augen, lehnte sich wieder