Ausgerockt - [Roman]
sagte er verärgert.
Linus ließ beide Hände vom Geländer los, Sander war überrascht, konnte seinen Griff nicht schnell genug festigen und Linus’ Arm rutschte aus seiner Hand.
Linus landete ungelenk auf den Füßen. Ein Schmerz durchfuhr sein linkes Fußgelenk.
»Wie war das jetzt eigentlich?«, rief Sander genervt. »Bist du der Betreuer oder brauchst du selbst einen?«
Linus antwortete nicht. Sander versuchte es anders. Drohend richtete er einen Finger auf Linus. »Das wird teuer hier. Macht euch da nichts vor. Das zahlt ihr!«
Linus ging zum Geländer des Vorsprungs und schwang ein Bein darüber, als würde er ein Fahrrad besteigen.
Neben Sander beugten sich jetzt zwei weitere Beamte über das Geländer.
»Mach doch keinen Scheiß jetzt!«, rief Sander.
»Ist Holger noch da oben?«, rief Linus zurück.
Einer der Beamten neben Sander rief: »Vorname ist Holger!«.
»Lassen Sie uns zehn Minuten hier oben. Danach kommen wir freiwillig runter. Ich verbürge mich dafür, dass er nicht fliegen wird.«
Sander schüttelte lächelnd den Kopf.
Sein Kollege rief: »Ihr seid hier überhaupt nicht in der Situation, Forderungen zu stellen. Also hör auf mit der Show und steig von dem beschissenen Geländer!«
Sander, der immer noch zwischen den anderen hockte, richtete sich auf. Er sprach zu seinen Kollegen. Linus konnte nichts davon verstehen. Auf jeden Fall verschwanden die Männer daraufhin, wenn auch widerwillig. Sander beugte sich wieder zu Linus und fragte: »Was will er denn?«
Linus zog die Augenbrauen hoch.
»Na, dein Kumpel. Was will er?«
»Ich glaube, er will bloß sein Transparent aufhängen und einen Song spielen. Der Flug ist ihm gar nicht so wichtig.«
»Was steht auf dem Plakat?«, fragte Sander wieder.
»Ich habe keine Ahnung. Irgendwas Revolutionäres!«
Linus überlegte, ob es sinnvoll wäre, nun auch das zweite Bein hinter das Geländer zu schwingen, um seine Forderung noch einmal zu bekräftigen. Er schaute nach unten und erstarrte. Er sah in knapp fünfzig Metern Tiefe die Leute auf dem Marktplatz und die Pflastersteine, auf die er aufschlagen würde, wenn ihn jetzt die Kräfte verlassen würden. Ihm wurde schwindelig.
»Du wirst doch ohnehin nicht springen!«, rief Sander.
Das stimmte. Linus wollte nichts lieber als wieder auf die richtige Seite des Geländers, auf die Seite des Lebens, zurück und dann runter vom Turm und dann rein in Brunssens Mercedes und dann irgendwo einen Tee trinken. Aber er konnte nicht. Er durfte nicht.
Ein entscheidender Moment. Wenn das alles hier nicht vollkommen sinnlos und peinlich enden sollte, musste Linus Keller jetzt konsequent sein.
Er krallte seine Hände an das Geländer, bis seine Fingerknochen weiß hervortraten. Er überprüfte den Stand seines linken Fußes und stellte fest, dass er komplett auf dem Steinboden stand, also nicht einen Zentimeter über den Abgrund lugte. Es war ein unwirkliches Bild.
Sein Fuß, in seinen alten abgewetzten Dockers, und darunter, unter diesem Relikt seines Lebens, diesem ihm so vertrauten Anblick, der Abgrund, das Ende. Diese Höhe, das Ungewisse, die Option auf Tod.
Jetzt würde eine Sekunde Unachtsamkeit reichen, den Himmel das letzte Mal gesehen zu haben.
Aber er konnte es nicht abbrechen. Die Welt würde Zeuge eines ungeschönten Falles von Verlierertum. Szenen, die so erbärmlich wären, dass man sie anschließend nicht einmal im Internet aufrufen würde.
Linus hatte das kleine Youtube-Videofenster förmlich vor Augen. Es würde zeigen, wie er auf dieser Empore die Nerven verlieren und aufgeben würde. Darunter würde die Zahl der Aufrufe angezeigt. 47 Views. Und die Zahl würde nicht steigen. Holger hätte verloren, die ganzen Vorbereitungen wären umsonst gewesen. Und das nur, weil Linus sich eingemischt hatte.
Vielleicht wäre Holger selbst ein Drachenunglück lieber gewesen als dieses unwürdige Ende.
Als er von seinen Schuhen aufsah, blickte Linus in Sanders nervöses Gesicht. Meine Schuhe, dachte Linus. Schuhe, Mehrzahl.
Und er erkannte, was Sander so beunruhigte. Linus hatte sein zweites Bein bereits über das Geländer gehoben und stand nun mit beiden Füßen kurz vorm Abgrund.
Er traute sich nicht, etwas zu sagen, weil er auf einmal dachte, dass Männer sich ja immer bloß einer Sache auf einmal widmen konnten.
Das war ihm lange eingebleut worden, in diesem Moment glaubte er daran und hatte große Angst, seine Hände würden versagen, wenn er seinen Mund benutzen würde.
Er sah
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