Ausgerockt - [Roman]
der Hand hielt er ein Mikrophon. Er richtete es auf Holger, als wäre es eine Waffe, die ihn in Schach halten sollte.
Der Helikopter kam wieder näher. Es war unmöglich, zu verstehen, was sie redeten.
Linus ließ sich auf dem Sims nieder und beobachtete die beiden.
Holger lehnte entspannt neben dem Reporter am Fahnenmast in der Mitte des Turmdaches. Die beiden schienen sich sogar zu verstehen, sie lächelten.
Der Reporter machte ein verständnisvolles Gesicht, und doch war an dem Blick etwas Seltsames.
Als der Mann plötzlich Holgers Arm ergriff und ihn ihm auf den Rücken drehte, glaubte Linus, in seinem Gesicht immer noch so etwas wie Sympathie zu erkennen.
Sympathie. Aber als er genauer hinsah, entpuppte sich das verkappte Lächeln des Reporters als Ausdruck verbissener Konzentration. Besonders, als er Holger zu Boden gebracht hatte und halbwegs über ihn gebeugt schrie: »Person unter Kontrolle!«
Als Linus zur Dachluke sah, quollen bereits mehrere Beamte aus ihr hervor. Sie strömten auf Holger und den Reporter zu, der kein Reporter war und Holgers Gesicht mit dem Knie auf den Betonboden drückte.
Holgers Wange war verschoben. Wie das Gesicht eines Kindes, wenn es seine Wangen mit den Händen nach vorne quetscht. Aber hinter dieser Fratze sah Linus seine Augen. Ein in dieser entstellten Komposition eingearbeiteter Blick, ein Vorwurf.
Holger musste denken, dass Linus Teil dieser Aktion war, dass er gewusst hatte, wie man ihn überwältigen wollte. Er musste denken, Linus habe sich instrumentalisieren lassen, gegen seinen eigenen Freund.
Holger wurde unsanft von den Beamten hochgerissen und unnötig durchgeschüttelt. Sie hielten ihn zu zweit fest.
Zwei andere machten sich über seinen Drachen lustig.
»Wir hätten ihn fliegen lassen sollen!«, riefen sie. »Hätten wir einen Bekloppten weniger gehabt.«
Holger sah Linus an, als wolle er sagen: Sieh nur, mit was für Arschlöchern du dich verbündet hast. Und sie zerrten an ihm, und als Linus die Tragweite des Geschehens der letzten Minute erfasst hatte, fühlte er sich so elendig, dass er die Beamten am liebsten von Holger losgerissen hätte. Doch ihm war klar, dass das zu nichts führen würde.
Also tat er das Einzige, was er noch tun konnte.
Die Beamten hatten nicht gemerkt, dass Linus sich langsam in Richtung des Geländers bewegt hatte. Zwei von ihnen waren damit beschäftigt, Holger seine Personalien zu entlocken, während der Rest seine Konstruktion begutachtete.
Sie nahmen Linus nicht einmal wahr, als er schon ein Bein über das Geländer gehoben hatte.
Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, aber er war sich sicher, dass er schnell auf sich aufmerksam machen musste. Denn wenn Holger erst einmal abgeführt war, würde er wohl nichts mehr ändern können.
»Okay!«, rief er.
Niemand hörte es, er selbst kaum, weil der Hubschrauber wieder direkt über dem Turm schwebte.
Aus vollem Halse schrie er: »Ey!«
Die schrille Frequenz drang durch die knallenden Propellerschüsse zu einem Beamten durch. Er sah zu Linus herüber. Eine Weile stand er verwundert da, dann alarmierte er seine Kollegen.
Nacheinander wandten sich ihm alle Köpfe zu. Sander sah sofort genervt aus, Holger hingegen überrascht. Die anderen Anwesenden wussten nicht, wie sie gucken sollten.
Der Helikopter entfernte sich wieder ein Stück.
»Ich werde jetzt da runter gehen!«, rief Linus. Er zeigte mit dem Finger auf den etwa vier bis fünf Meter tieferen Vorsatz des Turmes, der etwa drei Meter breit und durch ein weiteres Geländer gesichert war. Hinter diesem Geländer allerdings, da kam nichts mehr. Da ging es fünfzig Meter in die Tiefe.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, hangelte Linus sich ungelenk vom Geländer herunter, bis er schließlich an der Außenfassade des Turmes hing.
Das war eigentlich nicht schlimm, da seine Füße nur etwa zwei Meter vom Boden der nächsten Plattform entfernt waren. Vom Marktplatz drang die Reaktion der Schaulustigen zu ihm herauf. Murmeln, Tuscheln, Raunen vereinte sich zu einem hörbaren Klangteppich.
Was war nur passiert, dass plötzlich er, Linus Keller, zum Protagonisten dieser Aktion geworden war? Er zappelte und ruderte mit den Beinen.
Er hatte Angst. Aber er musste loslassen, sonst würde man ihn nicht ernst nehmen.
Plötzlich spürte er einen festen Griff an seinem Handgelenk. Er sah auf und blickte in ein vernarbtes Gesicht. Sander hielt seinen Arm fest und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Schluss!«
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