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Ausgesetzt

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Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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und so war er ihr immer wieder ein Stück voraus. Er fühlte eine kindische Genugtuung darüber, dass er jetzt zum A. P. Taxi-Frühstücksclub gehörte.
    Nach ein paar Tagen blieben sie regelmäßig allein am Tisch zurück, wenn die anderen nach Hause gegangen waren, um sich auszuschlafen. Walker war unschlüssig, ob Krista herumtrödelte oder die anderen früher als sonst gingen, aber ihm kam vor, als ließe sie sich länger Zeit.
    Er sah sie gern an, und ihm wurde klar, dass sein erster Eindruck, das Puppenhafte, oberflächlich und falsch gewesen war. Sie war eine bemerkenswerte Person. Wie fast alle Menschen, das hatte Walker in seinem jungen Leben schon gelernt, bemerkenswert waren, wenn man sie näher kennenlernte. Und Krista vielleicht mehr als andere. Eines Morgens nämlich, als sie so dasaß und die Papierserviette gewissenhaft in lange Streifen riss, erzählte sie ihm von all den Operationen, die sie als Kind über sich hatte ergehen lassen müssen, um die Bein- und Rückenmuskeln zu strecken und zu lockern, die von der Lähmung in ihrem Gehirn ständig den Befehl erhielten, gebeugt und angespannt zu bleiben. Und wie sie in ihrem stählernen Stützapparat durch die Gegend gehumpelt war und wie eine Miniaturausgabe von Boris Karloff ausgesehen hatte. Und wie sie darum gekämpft hatte, auf eine normale Schule zu gehen und ein normales Kind zu sein. Und wie sie noch immer mit ihrem Vater kämpfte, der Grieche und daher von sagenhafter Überfürsorglichkeit war.
    In Wahrheit war sie sehr wohl in der Lage, alles allein zu tun, sie wollte eine eigene Wohnung, aber sie brachte es nicht über sich, einen Streit mit ihrem Vater zu provozieren und auszuziehen, weil ihn das wahrscheinlich umbringen würde. Im Laufe der Jahre hatte er Tausende von Dollar für Umbauarbeiten ausgegeben, damit sie ihr eigenes Bad hatte, und mit einem Treppenlift konnte sie nach oben und sogar in den Keller fahren.
    Walker nickte und dachte an Mary Louise Devereaux.
    Und eines Morgens, zwischen all den Kaffeetassen, dem schmutzigen Geschirr, den Ketchupflaschen und den Kännchen mit echtem Kunstahornsirup, die Rubys verschlafener Enkel noch nicht wegzuräumen vermocht hatte, erzählte auch Walker Krista seine Lebensgeschichte.
    Hin und wieder schaute Krista weg, als wäre da etwas in Walkers Miene, das sie unangenehm berührte. Aber meistens ließ sie sich keinen Ausdruck seines Gesichts, kein Wort entgehen. Er erzählte ihr alles.
    »Darf ich sie sehen?«, fragte sie und meinte den Brief und das Foto.
    »Jetzt?«
    »Ich hab Zeit.«
    Seine Wohnung war nur ein paar Häuserblocks entfernt, aber Krista fuhr mit dem Auto hin. Und zwar so, das hatte Walker bald herausgefunden, wie sie überall hinfuhr: als kämpfe sie um den ersten Platz beim Indy-500-Rennen. Im Nu kam der Wagen vor der Pfandleihe zum Stehen. Sie stiegen aus und, in stiller Anerkennung der Besonderheit der Situation, erlaubte sie ihm, ihr die Krücken zu reichen.
    Walker schloss die Haustür auf, die hinauf zu seiner Wohnung führte, doch noch während er sie aufstieß, wurde ihm klar er, dass er ein Problem hatte. Krista schwang sich auf ihren Krücken heran. Zusammen standen sie da und sahen die lange Treppe in den ersten Stock hoch. Sie hatte nicht einmal einen Handlauf, und das war für Walker, der verzweifelt nach einer taktvollen Bemerkung suchte, eindeutig ein Verstoß gegen irgendeine Verordnung.
    Krista schien sich nicht besonders aufzuregen. Sie sagte nur: »Du wirst mich tragen müssen.«
    O Gott, dachte Walker. »Vertraust du mir denn?«
    »Werd ich wohl müssen.«
    Walker beugte sich zu ihr und hob sie hoch. Er hatte erwartet, sie werde sich richtig leicht anfühlen, aber das stimmte nicht. Sie war fest gebaut. Und weich. Und warm.
    Sie lächelte ihn an, ihr Gesicht nah an seinem. »Hü«, sagte sie.
    Er trug sie die lange Treppe hinauf, konzentrierte sich auf jede einzelne Stufe, um nicht zu stolpern und sie fallen zu lassen.
    »Ist dir das peinlich?«, fragt sie.
    »Nein. Wieso?«
    »Nur so. Machst du das oft?«
    »In letzter Zeit nicht so.«
    Vorsichtig setzte er sie oben im Flur ab und schloss die Wohnungstür auf.
    Die Wohnung, die ihm stets Grund zur Freude gewesen war, kam ihm jetzt trostlos und leer vor. Alles, was es hier zu sehen gab, war ein hoher Raum voller Wasserflecken mit einer einsamen kleinen Möbelinsel in der Mitte. Es sah aus, als hätte sich ein Hausbesetzer mit ein paar Möbeln hier eingenistet. Kerouac, der in all seiner Schäbigkeit und

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