Ausgesetzt
ein andermal mit dir wieder hinausgefahren bin. Dann hätten wir dieses Haus gemeinsam gefunden.«
Sie blickte ihn fest an. »Mit einem Krüppel auf dem Arm hättest du’s nie gefunden.«
Es war wie ein tonloser Donnerschlag. Als ob die ganze Luft aus dem Restaurant entwichen wäre. Als ob jemand sie beide mit ein und demselben Messer erstochen hätte. Das war es also gewesen. Von Anfang an. Nicht Angst, sondern Erniedrigung. Wegen der Quälerei im Sand. Und wegen seines Erfolges, wie er ihn ihr in seiner Gedankenlosigkeit beschrieben hatte, runter von der Felsspitze, den Kiesstrand entlang bis zu der Sandklippe und der Frau im Stuhl. Frei und unbelastet.
Krista sah ihn an, aber nicht hilflos oder mitleiderregend, sondern mit so viel grimmigem Feuer, dass sie ein Loch in die Wand hätte brennen können.
Er hielt es nicht mehr aus. Er beugte sich über den Tisch, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Ihre Lippen öffneten sich, ihr Mund, er spürte ihre Zunge auf seinen Lippen, seinem Mund, seiner Zunge.
»He, ihr da, Schluss damit«, mahnte Ruby und schlug mit einem Topf gegen die Theke.
Vier Straßenkehrer auf Kaffeepause und ein paar übernächtigte Nutten lachten und johlten. Irgend jemand klatschte sogar.
Walker und Krista ignorierten sie.
Ganz benommen überquerten sie die Straße. Er fragte sie, ob sie mit zu ihm kommen wolle – die Worte kamen einfach so heraus.
»Wie?«, fragte sie.
Da ihr Auto verbrannt und in ihrer Versicherung kein Mietwagen eingeschlossen war, hatte sie sich immer von einem der anderen Taxifahrer abholen und nach Hause bringen lassen.
»Einer von den Fahrern?«, schlug Walker vor.
»Spinnst du? Dann hätten die wirklich was, über das sie sich die Mäuler zerreißen könnten. Willst du uns Alphonso auf den Hals hetzen?«
»O. K.«, sagte er. »Wir könnten die Straßenbahn nehmen.«
Krista stand da in der Morgensonne, als versuche sie, ein Rätsel zu lösen. Er spürte, wie ihre Hand seinen Schenkel streifte. Er ging beinahe in die Knie.
»Noch nicht«, sagte Krista, »O. K.? Warten wir noch ein bisschen?«
»Warum?« Walker schrie es fast.
»Weil! Mach keinen Staatsakt draus.«
Staatsakt? Was zum Teufel soll das wieder heißen?, dachte er.
»Also, was wolltest du mir erzählen?«, fragte Krista.
Eine Zeitlang stand er da, dann sagte er: »Weißt du noch, was Kim in dem Brief geschrieben hat? ›Ich muss gleich Schluss machen, weil ich zur Bridge muss, und ich bin eh schon spät dran.‹ Ich weiß, was die Bridge ist.«
Ein Schatten, der sehr viel Ähnlichkeit mit Angst hatte, glitt über Kristas Gesicht.
»Was?«
»Die Schule von Alphonsos Nichte und den anderen Mädchen. St. Bridget. Die Mädchen nennen sie die Bridge. Ich dachte, es ist vielleicht ein Restaurant oder so was, wo die sich immer getroffen haben. Aber es ist die Schule, auf die Kim gegangen ist. Sie war in St. Bridget!«
»Und?«
»Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lennie auch da hingegangen ist. Irgendwann jedenfalls. Die Schule müsste doch Unterlagen über eine Miller haben, die Anfang der Siebziger da war. Da müssten die doch eine Adresse von einer Kim oder einer Lennie Miller haben.«
»Das ist über zwanzig Jahre her. Wer weiß, ob’s da noch was gibt? Und selbst wenn, glaubst du wirklich, sie würden’s rausrücken? Das sind vertrauliche Angaben.«
Walker war die ganze Nacht in seinem Taxi umhergefahren und hatte darüber nachgedacht. Es war überhaupt das einzige, an das er gedacht hatte. »Ich erzähle ihnen, dass ich an einem Stammbaum arbeite.«
»Mensch, Walker!«, stöhnte Krista. »Das glauben die dir nie.«
Walker schaute ein wenig verloren drein.
»Walker?«
»Was?«
»Vielleicht, wenn ich hingehe und frage. Wenn ich sage, ich arbeite an einem Stammbaum, dann klappt’s vielleicht. Erstens bin ich eine Frau, richtig? Und was noch viel besser ist, ich bin wirklich goldig und komm auf Krücken daher. Ich könnte sogar so tun, als hätte ich Schmerzen.«
Walkers Miene hellte sich auf. »Gute Idee«, sagte er.
An diesem Nachmittag sah er zu, wie Krista sich drei breite Steinstufen hinaufmühte, zu einem großen Gebäude aus Stein mit Buntglasfenstern und einem dezenten Schild, auf dem
St. Bridget’s Academy
stand. Sie kämpfte mit einer massiven Holztür und verschwand im Inneren des Gebäudes.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß Walker in Nicks altem Chrysler LeBaron, den er ihnen für ein paar Stunden geliehen hatte, und schaute in den
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