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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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vergessen.
    Aber er konnte es nicht einfach vergessen. Er musste ständig daran denken, wie die vier über Dimarco herfielen, ihn schlugen, ihn traten, ihn herumschleiften. Er sah das Bild vor sich, sah Dimarco jetzt auf dem Boden liegen, zappeln, winseln, weinen. Jemand langte hinunter, machte den Gürtel auf.
    Bobby sah sich um. Alles glänzte nass vom Regen. Er konnte seinen Atem in der Luft sehen. Sein Herz raste und sein Magen fühlte sich an, als würde ihn etwas zusammendrücken. Der Hof war leer, abgesehen von einer gackernden Schar jüngerer Schüler mit kurzen Hosen und Stollenschuhen auf dem Weg zum Sportplatz.
    Bobby eilte über den Hof und schlüpfte zum Osttor hinaus.
    Er überquerte die Straße und marschierte den Weg entlang, der eine Abkürzung hügelabwärts in die Stadt bildete. Der Boden war aufgeweicht, und er kam fast lautlos voran. Jedesmal, wenn er einen Ast streifte, spritzte ihm kaltes Wasser ins Gesicht. Er lauschte angestrengt, um die anderen Jungen zu hören, doch die waren still, warteten irgendwo in einem Hinterhalt. Auf wen? Auf ihn? Wussten sie, dass er ihnen folgen würde? Auf einmal dachte er, na klar wissen die das!
    Aber er konnte sich nicht zurückhalten. Er schlich weiter, Schritt für Schritt. Lauschte. Nächster Schritt.
    Er kam zu einer Lichtung, an einem klaren Tag konnte man von hier aus das Tal überblicken, doch heute sah man nur Nebelwolken, die durch die Wipfel der nächstgelegenen Bäume trieben.
    Er wagte sich nicht weiter. Als Soldat, als Stratege, hatte er Scheiße gebaut. Er hatte keine Ahnung, wo die vier Jungen waren. Er wusste nicht, wo Dimarco war. Er kannte nicht einmal das Gelände, obwohl er schon ein paarmal allein in die Stadt gegangen und langsam, müde den gewundenen Weg wieder hochgegangen war. Dimarco und die anderen Kinder aus der Stadt taten das zweimal am Tage. Wie schlapp konnte Dimarco also sein?
    Bobby schwitzte, fror und schwitzte, beides gleichzeitig.
    Wo sind diese Arschlöcher? Ist das eine Falle? Die sind hinter mir her!
    Wild sah er um sich. Nichts. Nur dumpfes, tiefes Schweigen. Dann hörte er oben auf der Straße Geschrei. Und gleich darauf war ihm klar, was los war.
    Dimarco hatte nicht die Abkürzung genommen, sondern war die Straße entlanggegangen, weil er wusste, dass diese Typen hinter ihm her waren. Aber sie hatten ihn ausgetrickst, weil sie wussten, dass er es wusste, und deshalb hatten sie ihm dort aufgelauert – an der Straße. Bobby hörte, wie sie Dimarco zwischen den Bäumen den Hügel hinunter in seine Richtung schleiften. Schlachtrufe und Gelächter. Siegesgeheul.
    Sie blieben stehen. Wildes Umsichschlagen zwischen den Bäumen über ihm. Ächzen. Leise Schreie.
    Bobby kletterte den schlüpfrigen Abhang hinauf. Im Nu war er völlig durchnässt, er zitterte, sein Atem kam in kleinen, stechenden Stößen.
    Zwei der Jungen konnte er, zumindest teilweise, durch die Zweige hindurch sehen. Einer der älteren Jungen hatte die Zahnpastatube in der Hand. Er lächelte auf etwas hinunter.
    »Mach ihn auf«, sagte er.
    Bobby wagte sich nicht näher heran, sonst würden sie ihn sehen. Er lag auf dem Boden, zitterte, sein Atem stockte, sein Herz hämmerte.
    Und dann geriet er selbst in einen Hinterhalt, wurde überrascht von einem jäh aufbrandenden Gefühl, einem Sturm, der in seinem Inneren tobte.
    Oh, stöhnte er leise, oh, und wiegte seinen Kopf hin und her. Von konvulsivischem Zucken und köstlichen Schaudern erfasst, presste er seinen Leib gegen den Boden.

[home]
    9
    W ie viele Millers, glaubst du, gibt es in Toronto?«, fragte Krista Walker mit ironisch hochgezogenen Brauen und kühlem Blick.
    Sie saß an ihrem Funktisch im Büro, aber genausogut hätte sie am anderen Ende des Flurs sitzen können. Sie hatten sich voneinander entfernt, obwohl Walker nicht hätte sagen können, warum.
    »Eintausendachthundertdreiunddreißig«, antwortete er.
    »Du hast sie gezählt?«, fragte sie. »Wenn du zehn pro Tag anrufen würdest, bräuchtest du ein halbes Jahr.«
    Sie gab ihrem Rollstuhl einen Schubs, rollte rückwärts quer durch den Raum, machte eine halbe Drehung und blieb mit dem Gesicht zum Tresen stehen. Energisch schlug sie ein Kassenbuch auf. »Und dann haben sie womöglich einen Geheimanschluss. Oder sie sind umgezogen.«
    Walker saß noch immer auf einer Schreibtischkante und schaute auf ihren blonden Hinterkopf. Jetzt drosch sie Zahlen in eine Rechenmaschine ein.
    So war sie, seit er vor zwei Tagen von Mary’s Point

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