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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Zannoner
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streckte den Hals, jetzt galt es die letzten Kräfte zu mobilisieren. Die Beine schienen unter Strom zu stehen, die Füße schwebten, als ob der Boden unter ihr glühend heiß und die Ziellinie die Erlösung von den Qualen wäre. Das rettende Ziel, das sie so schnell wie möglich erreichen musste. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass niemand neben ihr war, sie hatte alle hinter sich gelassen. Beim Überqueren der Ziellinie riss sie jubelnd die Arme hoch, siegestrunken, mit offenem Mund, die Hände zum Himmel gereckt.
    Sirio umarmte sie und rief: »Bravo, mein Wildfang.«
    »Ich habe an alles gedacht, an alles«, schrie sie ihm atemlos ins Ohr. »An den Flammenstoß des Drachens, bei jedem Hindernis, an den glühenden Boden, an alles!«
    »Du warst großartig.«
    Großartig, ja: Viola trug die Siegermedaille um den Hals, für einen Lauf, den nur eine Handvoll vom Nebel eingehüllte Zuschauer gesehen hatten. Eltern und Freunde ihrer Gegnerinnen. Schüchterner Applaus und vereinzelte »Bravo«-Rufe waren zu hören, aber nicht für sie, denn auf den Rängen war niemand, der sie angefeuert hätte. Ihr Vater hatte dieses Mal nicht kommen können. Seitdem ihn die Leidenschaft für Oldtimer gepackt hatte, verbrachte er seine Freizeit damit, sein ganz persönliches Spielzeug zusammenzubauen, ein Auto, das aus einem alten Mickimausfilm zu stammen schien. Ausgerechnet an diesem Sonntag wollte er eine Probefahrt machen. Beim nächsten Mal wäre er wieder dabei, hatte er versprochen. Als ob 100-Meter-Hürdenläufe auf Landesebene jeden Sonntag ausgetragen würden!
    Von ihrer Mutter ganz zu schweigen. Der Austragungsort war ihr zu weit weg, obwohl sie nicht einmal selbst hätte fahren müssen. »Ich wäre dir nur im Weg«, hatte sie gesagt, »morgens wird mir im Auto immer schlecht, wir müssten alle hundert Meter anhalten.« Bestimmt wartete sie gespannt auf ihren Anruf und auf ihre Rückkehr. Wer weiß, vielleicht hätte sie sogar ihre berühmten Kekse gebacken, die sie ihr versprochen hatte. Nicht, dass Viola besondere Lust darauf gehabt hätte, in diesem Moment dachte sie an alles, bloß nicht ans Essen. Sirio reichte ihr das Handy, die Nummer war schon gewählt. »Mama, ich habe gewonnen«, sprudelte es noch immer ein wenig atemlos aus ihr heraus. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Dampfwölkchen stiegen auf, wie Rauchzeichen. Patricia stieß ein »Oh!« hervor, lang genug, um als Begeisterung oder Erleichterung interpretiert werden zu können. Vielleicht hatte sie eine schlechte Nachricht erwartet, die nun doch nicht gekommen war, und endlich konnte sie aufatmen. Tatsächlich sagte sie sofort danach: »Gott sei Dank!« Warum »Gott sei Dank«? Warum kam kein Jubelruf: »Super, wunderbar, genial, einfach fantastisch«? Oder wenigstens ein altmodisches Lob, aus der Zeit, als ihre Mutter ein junges Mädchen gewesen war: »Dufte«, »Prima« oder »Klasse«? Aber »Gott sei Dank«? Als ob Viola wenigstens Vorletzte und nicht Letzte geworden wäre. Als Viola ihrem Trainer das Telefon zurückgab, standen Tränen der Wut in ihren Augen. Für Sirio sah es allerdings so aus, als weinte sie vor Erleichterung, weil der Druck endlich abgefallen war. Er legte den Arm um sie und drückte sie an seine Brust. Aber Viola machte sich los und schüttelte den Kopf. Die Tränen waren schon versiegt. Gott sei Dank.
    Patricia hatte wirklich Kekse gebacken. Man konnte es schon im Treppenhaus riechen. Der süßliche Duft mischte sich mit kaltem Zigarettenrauch und abgestandener Luft, deshalb ging Viola als Allererstes zum Wohnzimmerfenster und riss es auf. Ihre Mutter stand auf der Schwelle, im Bademantel, aber immerhin hatte sie sich die Haare gekämmt und sie zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie lächelte. Mit traurigen Augen zwar, aber sie lächelte. »Und?«
    »Hier ist sie.« Viola zog die Siegermedaille aus der Tasche. Patricia kam näher, griff danach und betrachtete sie. »Schön. Ist aber kein echtes Gold, oder?«
    »Schön wär’s«, scherzte Viola.
    »Egal«, sagte ihre Mutter und hob den Blick. Dann breitete sie plötzlich die Arme aus und schlang sie um ihre Tochter. Vor Schreck machte sich Viola ganz steif, wie eine Puppe. Ihre Mutter flüsterte: »Mein kleines Mädchen.«
    Als sie sich von Viola löste, hatte Patricia Tränen in den Augen, verlegen wandte sie sich ab, zog ein Taschentuch aus der Tasche des Morgenmantels, putzte sich die Nase und wischte sich über die Augen. Viola rührte sich nicht. Wie konnte

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