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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Zannoner
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Nacht im Krankenhaus entmutigen lassen, von der Einsamkeit, der fremden Umgebung, den ungewohnten Geräuschen, den quietschenden Gummisohlen der Pflegekräfte, von all den Menschen um dich herum. Doch das Gefühl der Entmutigung ging noch tiefer, das Chaos aus Gedanken und Bildern hat sich mehr und mehr zu der Gewissheit verdichtet, dass deine Beine gelähmt sind.
    Aus diesem Gedankenwirrwarr hat sich schließlich ein einziges quälendes kleines Wort herauskristallisiert: »Syntagma.« In der Schule hattest du den Sinn nie verstanden, aber auf einmal geisterte dieses Wort wieder und wieder durch deinen Kopf und war die klarste Sache der Welt. Du hattest das Syntagma verloren, den Kontakt zur Basisstation, die das Gehen, Rennen, Fußballspielen, Springen koordiniert. Dir war nicht ganz klar, wo die Verbindung unterbrochen worden war und warum es geschehen war, aber genau das war passiert: Das Syntagma deines Körpers war zerstört.

Nach einem Monat
    Silvia weiß es nicht, aber für dich ist diese endlose Stille nichts Neues. Du bist ganz in deinem Element, denn du begegnest nicht nur deinen Lehrern mit Schweigen, sondern auch den Freunden deiner Eltern, deinen Verwandten, allen Menschen, die dich nicht interessieren. Sie versuchen immer wieder, das Eis zu brechen, wie man so sagt, und stellen idiotische Fragen, meist über die Schule oder den Fußball, damit du anbeißt. Aber du zuckst nur mit den Schultern und gibst einsilbige Antworten:
    »Wie läuft es in der Schule?«
    Schulterzucken.
    »Und die Mannschaft? Wann habt ihr euer nächstes Spiel?«
    »Samstag.«
    »Gegen wen?«
    Du nennst den Namen eines kleinen Ortes, mehr nicht. Schließlich geben die Verwandten, Bekannten und Freunde auf, es ist sinnlos, es weiter zu versuchen. Du jedoch beobachtest die Szenerie weiter, mit freundlichem Lächeln, man könnte denken, du wärst ein bisschen beschränkt. Immerhin wäre dieses Vorurteil nicht neu: Wer Fußball spielt, hat meist nichts in der Birne.
    In der Schule das gleiche Spiel. Ewig lange Minuten zwischen der Frage des Lehrers und dem ersten Wort, das die Antwort einleitet: »Nun … « Und dann einer dieser Sätze, die Lehrer »verschachtelt« nennen, voller Nebensätze und Einschübe, eine nicht enden wollende Sequenz aus Relativsätzen, »dass«, »das heißt« und imaginären Klammern. Bandwurmsätze, bei denen man nicht weiß, wann sie enden, wann deine Gedanken endlich versiegen. Aber es ist vor allem der Vorhang des Schweigens, er hüllt die Klasse ein, keiner der Mitschüler bringt ein Wort über die Lippen, es herrscht absolute Stille, niemand kratzt sich an der Wange oder legt einen Stift auf den Tisch. Nichts. Diese Stille kann man nicht kaufen, nicht mit allem Geld der Welt.
    Genau diese Atmosphäre herrscht auch zwischen dir und Silvia, der Psychologin. Sie ist ausgesprochen geduldig, das muss man ihr zugutehalten, seit einer Woche kommt sie jeden Tag und spielt immer das gleiche Spiel. Sie versucht dich aus der Reserve zu locken, dich zum Sprechen zu bringen, ganz einfühlsam und ohne jeden Druck. Sie fragt, wie es dir geht, und du zuckst mit den Schultern, sie fragt, ob sie ein andermal wiederkommen soll und du schüttelst den Kopf. Sie sagt, es sei völlig in Ordnung, nicht zu antworten. Sie legt die Hände in den Schoß und sieht dich mit einem milden, verständnisvollen Lächeln an. Aber du kannst mit all diesem Verständnis nichts anfangen. Im Gegenteil, sie geht dir auf die Nerven. Um sie auf eine falsche Fährte zu locken, lässt du hin und wieder einen Satz fallen, irgendwelchen Blödsinn, auf den sie sich sofort stürzt und sich Notizen macht. Es ist witzig, ihr beim Schreiben zuzusehen, denn sie sitzt dabei nicht am Tisch, sondern mit übereinandergeschlagenen Beinen genau vor dir und hat ihr Notizbuch auf dem Knie liegen. Um etwas zu notieren, muss sie sich leicht nach vorne beugen, ihre Hand fliegt über das Papier, ihr Blick wandert zwischen ihren Aufzeichnungen und deinen Augen hin und her, um zu ergründen, ob du die Wahrheit sagst.
    »Träumst du?«
    Du sagst Nein, du erinnerst dich nicht. Aber wenn du deinen großzügigen Tag hast, präsentierst du ihr einen maßgeschneiderten Traum, irgendetwas Absurdes, Typisches: Du seist geflogen oder hättest in den Spiegel geblickt und jemand anderen gesehen. Vielleicht durchschaut sie, dass du dir das nur ausdenkst, denn sie fragt nicht weiter und macht sich nur eine kurze Notiz. Was würdest du dafür geben, zu wissen, was sie da

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