Ausgewechselt
die Ärzte.
In den Monaten im Krankenhaus hast du eine Menge Fachbegriffe gelernt, Wörter, von deren Existenz du nicht einmal geahnt hattest. Du hast dir ein medizinisches Wörterbuch mitbringen lassen, um die Bedeutungen nachschlagen zu können, denn auch wenn die Ärzte versucht haben, es dir mit anderen Worten zu erklären, wolltest du den genauen Sinn ergründen. Bis dahin war dir nur ein einziges medizinisches Fremdwort bekannt gewesen, das mit para anfing: Paranoia. Du hast es ständig benutzt: »Was für eine Paranoia«, »der hat wohl die Paranoia«, »mörderische Paranoia«. Für dich war Paranoia die ultimative Form des Grauens. Du hast nicht gewusst, dass Paranoia eine sehr ernste psychische Störung ist und dass fast alle medizinischen Fachbegriffe aus dem Griechischen kommen und dass dieses »para« vor einem Wort die Dinge relativiert: »Paralyse«, Lähmung, »Paraplegie«, Querschnittslähmung, »Paraparese«, Lähmung beider Beine. Die »paras« sind Variationen über ein Thema und drehen sich immer um den gleichen Kern. Ein »Paramedic« ist ein Rettungssanitäter, also quasi ein »halber Arzt«, »Paraphrase« bedeutet Mehrdeutigkeit, und »paradox«, absurd, erscheint alles um dich herum. Aber was du suchst, ist ein Paradigma, um dein neues Sein zu definieren.
Erinnerst du dich? Als die Lehrerin dich nach der Bedeutung des Wortes »Paradigma« gefragt hat, ist dir keine Antwort eingefallen. Jetzt könntest du es ihr an deinem Beispiel erklären. Dein Ziel ist es, dir ein persönliches Paradigma zu erschaffen, mit dem du weiterleben kannst. Und das ist ziemlich schwer, weil auch der Schmerz zu diesem Paradigma gehört. Klar, es gibt Schmerzmittel, aber dein Körper ist wie ein Gegner, der deine Strategien ziemlich schnell durchschaut, sich anpasst und dich austrickst. Er gibt keine Ruhe, bis er sämtliche Energien aus dir herausgesaugt hat. Es ist, als würdest du ständig gefoltert, aber was solltest du schon gestehen? Und während dir der Schmerz wie Elektroschocks durch die Zehenspitzen und die Leistenregion schießt, versuchen alle verzweifelt, dir zu helfen und dich abzulenken. Deine Mutter, Verwandte, Freunde.
In deinem Krankenzimmer ist immer etwas los gewesen, ein ständiges Kommen und Gehen. Selbst Verwandte, die du schon ewig nicht mehr gesehen hattest, Mitschüler aus der Grundschule, Spieler aus den gegnerischen Mannschaften. Du hättest nie gedacht, dass sich so viele Menschen Sorgen um dich machen. Gut, du hattest damit gerechnet, dass dein Trainer dich besuchen und beruhigende Worte finden würde: »Das wird schon, du wirst sehen.« Und natürlich deine Mannschaftskameraden, die sich wie eine Herde Schafe um dein Bett geschart haben. Aber all die anderen? Man hatte den Eindruck, als würden Pilgergruppen einem Heiligen ihre Aufwartung machen. Wahrscheinlich hat deine Mutter den Besucherstrom mit eiserner Disziplin organisiert und koordiniert. Die Mitschüler mit der Klassenlehrerin, die Abteilung Onkel, Tanten samt Cousins und Cousinen, eine Gruppe von Ferienbekanntschaften, die Sandkastenfreunde, alle sind gekommen. Mit lächelnden Gesichtern und Geschenken, mit guten Wünschen und ebensolcher Laune, denn jemanden wie dich besucht man nicht mit schlechter Laune, man muss dir geben, was du brauchst, und das ist gute Laune. Sandra hat das nicht kapiert. Es war schon richtig gewesen, dass du mit ihr am Telefon Schluss gemacht hattest, denn es hat dir wehgetan, sie an deinem Bett sitzen zu sehen, mit weit aufgerissenen Augen und einem verzerrten Lächeln auf den Lippen, das eher nach einer Grimasse aussah. Dann ist sie in Tränen ausgebrochen und musste aus dem Zimmer gehen. Du hättest ihr am liebsten die CD hinterhergeworfen, die sie dir geschenkt hat. Konnte Sandra sich denn nicht vorstellen, dass du von dem Leiden anderer gar nichts wissen willst? Dein eigener Schmerz reicht dir schon.
Nur ein einziges Mädchen scheint das kapiert zu haben. Deine Klasse ist zweimal komplett erschienen, wie eine Schafherde mit einem Lehrer als Hirten. Aber sie ist öfter gekommen, hat dir den Unterrichtsstoff erklärt und die Hausaufgaben, damit dein Rückstand nicht zu groß wird. Man hat sie wohl ausgewählt, weil sie die Klassenbeste ist, aber sie kommt dir ganz und gar nicht mehr arrogant und hochnäsig vor. Sie ist richtig nett und hat eine schier unendliche Geduld. Aber das Wichtigste ist, dass es ihr Spaß zu machen scheint, dich zu besuchen. Während sie dir die Matheaufgaben oder die
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