Ausgewechselt
Grammatik erklärt, flicht sie immer ein paar lockere Sprüche ein und imitiert die Lehrer, wobei ihr beide Tränen lacht. Sie sieht dich nicht mitleidig, entsetzt oder genervt an, sie ist auch nicht stolz auf ihre Aufgabe. Wer hätte gedacht, dass sie einmal deine Rettung sein würde? Ausgerechnet dieses Mädchen, das du früher überhaupt nicht ausstehen konntest – Viola?
Der Park ist in frühlingshaftes Licht getaucht. Gisella schiebt den Rollstuhl und redet unermüdlich auf dich ein: »Hast du das gesehen?«, »Wie schön!«, »Das tut gut, nicht wahr?« Sie hört gar nicht mehr auf, wie eine Gebetsmühle neben deinem Ohr.
»Lass mich allein«, sagst du.
Sie beugt sich über dich, tief besorgt, es fällt ihr schwer, aber sie akzeptiert es. »Wie du willst.«
Silvia hat ihr gute Ratschläge gegeben. Lassen Sie ihn los, geben Sie ihm das Gefühl von Freiheit. Du spürst ihre fürsorglichen Blicke auf dir, während du versuchst, den Rollstuhl auf dem Kiesweg in Bewegung zu setzen, auf dem du mit deinen Füßen schon so viele Kilometer zurückgelegt hast. Dir ist klar, dass dich deine Mutter nicht aus den Augen lässt, auch wenn sie sich auf eine Bank gesetzt hat und sich ganz entspannt gibt. Du beschleunigst ein wenig. Der Rollstuhl erinnert dich an ein Gokart, das du einmal ausprobiert hast: Ein ziemlicher Unterschied zu deinem Roller, es ist ungewohnt, so dicht über dem Boden zu sein, du warst es gewohnt, höher zu sitzen und mit Vollgas direkt in Richtung Himmel zu fahren. Jetzt bist du irgendwo dazwischen, du musst dich noch an die Dimensionen und Perspektiven gewöhnen. Was dich als Erstes irritiert hat, nachdem du aus dem Krankenhaus entlassen worden bist, waren die Autos auf dem Parkplatz. Du warst es gewohnt, ihnen aufs Dach zu sehen, jetzt hast du alles von unten gesehen, aus der Froschperspektive, als ob du einen halben Meter geschrumpft wärst. Euer Haus ist dir riesig vorgekommen, die Haustür hoch und schmal, die Wohnung voller Hindernisse, geschlossene Türen, sperrige Möbel, zu hohe Griffe, unerreichbare Regale. Dein Zimmer ist dir fremd vorgekommen, als ob jemand anderer darin wohnen würde. Es war perfekt aufgeräumt, so ordentlich hatte es früher nie ausgesehen. Normalerweise war das Bett nicht gemacht, die Schuhe waren wahllos auf dem Boden verstreut, die Hosen und Pullis auf einem Stuhl übereinandergeworfen und auf dem Schreibtisch häuften sich Schulbücher, Hefte und alles mögliche andere Zeug. Die Poster und der Schal in den Farben deiner Mannschaft an den Wänden, die Pokale auf der Kommode, die signierten Fotos deiner Lieblingsfußballer über dem Bett, als wären es Schutzheilige, der winzige Fernseher auf dem Schreibtisch – all das schien einem Jungen zu gehören, der nicht mehr hier lebte. Und du warst sein Ersatz.
Still hast du auf der Schwelle verharrt und den Raum betrachtet, der nicht mehr zu dir gehörte, dann hast du zu deiner Mutter gesagt: »Ich kann hier nicht bleiben.«
Wie üblich hat sie die Angst gepackt. Sie wollte wissen, was sie für dich tun könnte, und du hast gesagt: »Ich will im Wohnzimmer schlafen.«
Enrico hat sich eingeschaltet: »Was soll das denn? Das ist dein Zimmer und ich verstehe nicht, warum das nicht so bleiben soll.«
Du bist zu ihm hinübergefahren und wie immer ist er einen Schritt zurückgewichen. Dein Vater hat den Rollstuhl noch kein einziges Mal berührt.
»Ich kann nicht in meinem Zimmer bleiben.«
»Warum?« Er hat die Stirn gerunzelt und nicht lockergelassen. »Wir haben alles extra so gelassen, wie es war.«
Du konntest es ihm nicht erklären, aber du konntest auch nicht zurück in dieses Zimmer, nicht für alles Geld der Welt. Der vertraute Geruch deiner Sachen hat dir das Herz abgeschnürt und zwischen Brustkorb und Magen hat sich alles verkrampft. Du konntest nicht noch mehr Schmerzen ertragen, es war genug. Am liebsten wärst du mit dem Rollstuhl durch den Flur gerast, hättest die Tür aufgerissen und wärst im Aufzug verschwunden, innerhalb weniger Sekunden. Stattdessen ist die Tür aufgegangen und dein Onkel und dein kleiner Bruder haben die Wohnung betreten. Dein kleiner Bruder Jona, der dich oft im Krankenhaus besucht und gefragt hatte, wo du Schmerzen hättest und wann du wieder nach Hause kommen würdest. Jona ist durch den Flur gerannt und hat dich umarmt. Er war überglücklich. Diese Freude hast du gebraucht, sie war das stärkste Schmerzmittel der Welt. Die Verkrampfung zwischen Brustkorb und Magen
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