Ausgewechselt
ihr Gesicht bekommt wieder etwas Farbe und sie sagt: »Du kannst hier nicht bleiben, das ist zu gefährlich.«
Sie dreht den Rollstuhl zur Seite und der Fluss verschwindet aus deinem Gesichtsfeld. Sie hält die Griffe fest umklammert, aber du siehst sie auffordernd an. Vorsichtig lässt sie los und du stößt dich kräftig ab. Auf dem Rückweg geht es leicht bergab und es ist, als würdest du fliegen.
Morgens
Auf dem Nachhauseweg vom Krankenhaus betrachtest du durch die Autoscheibe die Bürgersteige und Häuser, die wie in Zeitlupe vor deiner Nase vorbeiziehen. In deinem früheren Leben hast du immer auf einen Punkt auf dem Armaturenbrett gestarrt, deine Umgebung hat dich nicht interessiert. Mit dem Roller bist du an den Häusern vorbeigerast, den Kopf voller Gedanken an das, was du noch zu tun hattest, ein anderer Teil deines Gehirns hat sich auf die Straße konzentriert, ans Gleichgewichthalten gedacht, ans Schalten, ans Bremsen und an den Verkehr. Als du an diesem eiskalten Morgen vom Krankenhaus abgeholt wurdest und das Verkehrsgetümmel gesehen hast, hattest du den Eindruck, auf einem fremden Planeten zu sein, als würdest du all diese Straßen voller Motorroller wie deinem zum ersten Mal in der Realität sehen, als hättest du sie zuvor nur aus einem Dokumentarfilm gekannt. Es war wie in diesem alten Film, den du einmal gesehen hattest (wenn man das flüchtige Betrachten einzelner Szenen beim Zappen durch die Kanäle so nennen konnte). Es war ein rührseliger alter Film in Schwarz-Weiß gewesen, der in einer gespenstisch wirkenden Stadt spielte, in der schon die jungen Leute alt waren. Früher hatte dieser Thriller tatsächlich die Massen begeistert und heute wirkte er so harmlos wie das Skelett eines Tyrannosaurus. Das einzig Aufrüttelnde war sein Titel: »Vertigo – Aus dem Reich der Toten.«
Auch du bist aus dem Reich der Toten zurückgekehrt. Das ist dein zweites Leben, du fängst wieder bei null an. Du musst alles hinter dir lassen, was vorher gewesen ist, es kann dir höchstens als Reminiszenz dienen. Ein schönes Wort, Viola hat es dir erklärt, als ihr über Literatur gesprochen habt: Reminiszenz, die Vergangenheit in Erinnerung rufen, viele Kunstwerke stecken, gewollt oder ungewollt, voller Reminiszenzen an andere Zeiten. Du hast die Psychologin danach gefragt: »Kann ich jetzt alles, was vorher war in meinem Leben, als Reminiszenz benutzen?«
Falls du vorgehabt hattest, sie zu verblüffen, war es dir gelungen: Silvia hat die Augenbrauen hochgezogen, dir anerkennend zugelächelt und erklärt, die Reminiszenz sei die Fähigkeit der Seele, Erinnerungen in uns wieder aufleben zu lassen, immer, auch wenn wir glauben, sie seien längst verschwunden.
Hinter dieser Kreuzung beginnt die Straße, die zum Fußballplatz führt, auf dem du früher trainiert hast. Das ist eine Reminiszenz, aber auch ein plötzlich in den Magen schießender Schmerz. Du kannst dir alles schönreden und dich irgendwie damit abfinden, aber die Tatsache, dass du nie wieder Fußball spielen kannst, ist unerträglich. Schlimmer als die Schmerzen in den Beinen, schlimmer als all die Probleme, die dich ständig dazu zwingen, in deinen Körper hineinzuhören (Soll ich die Position wechseln? Soll ich etwas trinken? Soll ich aufs Klo gehen? Soll ich mich mehr auf die Seite drehen?).
Der Anblick des Fußballplatzes ist wie eine Messerklinge, die deinen Körper durchbohrt, die einzige Fluchtmöglichkeit ist die Vorstellung, dass du irgendwann wieder auf den Rasen zurückkehren wirst, um dem Ball hinterherzurennen, ihn perfekt zu stoppen und dann mit dem härtesten Schuss der Welt ins Tor zu donnern. Siehst du? Allein bei dem Gedanken fangen deine Beine an zu vibrieren. Gisella sitzt am Steuer und wirft dir einen kurzen Blick zu, sagt aber nichts, sie ist an deine spastischen Zuckungen gewöhnt. Aber dieses Mal sind die Bewegungen von deinem Gefühl gesteuert. Von dem Wunsch, mit dem Ball am Fuß über den Rasen zu sprinten, und niemand kann dich stoppen.
Der sympathische Chefarzt der Reha-Abteilung hatte dich in sein Büro gebeten, ein großer Raum, der zur Hälfte von einem schwarzen Schreibtisch ausgefüllt wurde. Der Schreibtisch war riesig, aber leer, und du hattest dich gefragt, wozu er ihn überhaupt brauchte. Er hatte sich in seinen gepolsterten Chefsessel gesetzt und sich Mühe gegeben, freundlich und aufgeschlossen zu wirken, lässig zurückgelehnt, die Ellbogen auf den Lehnen abgestützt, die Hände vor der Brust
Weitere Kostenlose Bücher