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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Zannoner
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verschlossen, als wollte er nichts mehr hören. Denn auch wenn meine Eltern nur leise über das Thema sprechen, durchdringen ihre Gedanken die Luft und verteilen sich in der ganzen Wohnung, sie setzen sich in den Ecken fest und regnen auf uns herab wie ein böses Omen: die Operation, die USA . Mein Vater denkt an nichts anderes. Er hat in der Zeitung von einer revolutionären Operationsmethode gelesen, mit der man Gelähmten die Bewegungsfähigkeit der Beine zurückgeben kann. Er hat erst nur darüber nachgedacht, sich dann an der Idee aber regelrecht festgebissen, wobei er völlig ignoriert, dass die Ergebnisse noch sehr vage sind. Das Wort » USA « genügt, um an das Unmögliche zu glauben. Als ob die Vereinigten Staaten von Amerika das neue Lourdes wären, der Ort der Verheißung und der Wunder, mit dem Unterschied, dass die Wissenschaft und die Technik den Glauben ersetzen. Voller Enthusiasmus hat er die sensationelle Neuigkeit am Tisch verkündet, aber Gisella und ich haben ihn sofort gebremst: Um welche Fälle geht es überhaupt? Um Querschnittslähmung? Davon war in dem Artikel nicht die Rede und meine Mutter hat geschimpft, dass das bestimmt wieder eine dieser klassischen amerikanischen Übertreibungen wäre, und soweit sie informiert sei, würde man auf diesem Gebiet mit Stammzellen forschen. Entgeistert habe ich verfolgt, wie meine Eltern miteinander diskutierten, als wären sie Professoren für Biotechnologie, denn ich hätte niemals erwartet, dass sie Nachforschungen darüber angestellt haben, ob es eine Möglichkeit gibt, dass ich wieder gehen kann. Und dazu noch jeder für sich, unabhängig voneinander und hinter meinem Rücken. Offensichtlich bin ich auch in ihren Augen lediglich ein Verbannter, der in seine Heimat zurückkehren will, sie begreifen nicht, dass ich Höllenqualen leide, dass für mich schon die kleinste Erinnerung an früher eine Tortur ist. Wütend saß ich vor ihnen und biss die Zähne zusammen, um nicht zu explodieren, bis ich es nicht mehr aushielt und schrie: »Ihr seid verrückt!« Enrico war beleidigt und Gisella schluckte und bat um Entschuldigung. Ich hatte einfach die Schnauze voll und wollte sie nicht mehr sehen. Und wenn mein Körper zu dem in der Lage gewesen wäre, wozu mir mein Instinkt riet, wäre ich einfach abgehauen und nie wieder zurückgekehrt, in diese Wohnung voller Stufen und Kanten.
    Hier bei Viola kommt es mir vor wie im Paradies. Die Eingangstür ist breit, der Korridor großzügig geschnitten, die Küche hat eine stufenfreie Verbindung zum Wohnzimmer, nicht wie bei uns, wo man zwei Türschwellen überwinden muss. Die Räume sind groß, die Fußböden glatt und die Fenster breiter als hoch. Auch wenn ich im Rollstuhl sitze, kann ich nach draußen schauen, kann die sich im Wind wiegenden Wipfel der Zypressen sehen und die Amseln, wie sie hoch in die Luft schießen.
    Patricia war am Ende ihrer Kräfte, mit zitternden Händen zündete sie sich eine Zigarette an. Leo war gerade weg, auf seinen Lippen hatte ein zufriedenes Lächeln gelegen. Viola dagegen kam ihr Zuhause wie ein Albtraum vor, sie konnte es kaum erwarten, endlich achtzehn zu werden und auszuziehen, weg von hier, weg von dieser Scheinwelt, weg von diesem spießbürgerlichen Viertel, weg von diesen akkurat ausgerichteten Häusern mit geleckten Fassaden und gepflegten Vorgärten, raus aus der Stadt, die ihr vorkam, als liege sie im Dornröschenschlaf, als wären ihre Bewohner in Lethargie gefallen.
    Patricia rauchte und starrte ins Nichts. »Wie schade, ein so hübscher Junge«, hatte sie mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck gesagt. Das war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Violas eisiger Blick hatte sie regelrecht durchbohrt. »Was soll das heißen, ›schade‹?«
    Patricia hatte sie verblüfft angeschaut, als wäre es völlig klar, was sie meinte: »Die Sache mit dem Rollstuhl natürlich, der Arme.«
    Viola spürte, wie ohnmächtige Wut in ihr hochstieg, sie streckte sich und schrie: »Das darfst du nicht sagen! Du nicht!« Ihre Mutter war fassungslos. Und während Viola sie weiter anschrie, kniff sie die Augen fest zusammen, als müsse sie sich gegen einen imaginären Windstoß stemmen.
    »Wer bist du eigentlich, um so etwas zu sagen? Sieh dich doch nur mal an, du bist es, die einem leidtun kann! Du und nicht Leo. Leo ist stark und bemüht sich, er ist voller Willenskraft, aber du … du bist arm dran!«
    Patricias Antlitz war wie versteinert, ihre Gesichtszüge schienen

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