Ausgewechselt
dreht sofort um, während ich schon weitergerollt bin. »Hey«, ruft er mir hinterher, »den Ball wirst du doch nicht die ganze Zeit an dich klammern wollen? Gib ab!«
Ich werfe ihm den Ball zu, er fängt ihn mit einer Hand auf, den Arm ausgestreckt, dann tippt er ihn zweimal am Boden auf, ohne mich dabei aus den Augen zu verlieren. »Du musst mir den Ball abnehmen, während ich dribble. Schaffst du das?«
Statt einer Antwort stürze ich mich auf ihn, aber der Ball scheint ein Eigenleben zu haben, springt von einer Hand in die andere, prallt vor und hinter dem Rollstuhl auf. Ruben spielt mit mir wie die Katze mit der Maus, so lange, bis wir unter dem Korb sind. Dann streckt er blitzschnell den Arm hinter dem Körper aus und wirft den Ball in einem perfekten Bogen in den Korb. Ich fluche, lächele aber dabei. Er ignoriert mich und meint nur: »Wenn du es mit mir aufnehmen willst, musst du früher aufstehen.«
Die anderen Spieler kommen wieder aufs Feld und ich rolle an den Spielfeldrand, wo Manlio mit den Händen in den Taschen auf mich wartet.
»Ich werde ihm das Maul schon stopfen, du wirst sehen«, sage ich. Manlio nickt lächelnd.
Viola saß auf der Tribüne und verfolgte das Trainingsspiel. Fasziniert beobachtete sie, dass Leo immer im Zentrum des Spiels war. Er fing geschickt den Ball und prallte ihn sofort wieder auf den Boden. Manlio saß neben ihr, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, das Kinn auf den verschränkten Händen. Hochkonzentriert folgte er den Bewegungen seines Schützlings.
Seit einem Monat war Leo im Basketballtraining. An diesem Nachmittag hatten Viola und er zusammen gelernt, daher hatte er sie gefragt, ob sie mitkommen wollte. Als sie in die Halle kamen, hatte es anerkennende Pfiffe und anzügliche Bemerkungen gegeben: Die Mitspieler dachten, sie sei mit Leo zusammen, aber sie war nur eine gute Freundin, damals jedenfalls. Die einzige. Leo hatte vorher noch nie eine gute Freundin gehabt, Mädchen waren eine Welt für sich gewesen, für die er sich überhaupt nicht interessierte. Es genügte ihm, hin und wieder eine aufzureißen (Viola vermutete, dass das bei ihm ziemlich schnell ging, vermutlich genügte ein aufmunternder Blick oder ein flotter Spruch), dann traf er sich eine Weile mit ihr und machte wieder Schluss, wenn er anfing sich zu langweilen (und Viola war ziemlich sicher, dass auch das ziemlich schnell ging). Er hatte sich noch nie ernsthaft mit einem Mädchen unterhalten, so wie er es mit Viola tat, hatte niemals seine Gedanken, Zweifel und Ängste mit einem Mädchen geteilt. Aber so wie er mit Viola sprach, hatte er wahrscheinlich noch nicht einmal mit einem Jungen geredet. Freunde waren zum Spaßhaben da, und wenn er wirklich mal ein ernsthaftes Gespräch geführt hatte, war die Initiative immer von dem Anderen ausgegangen, der sich bei ihm auskotzen wollte, und nicht umgekehrt. Leo hatte keine Probleme gehabt.
Aber Viola war anders. Sie war keine dieser aufgetakelten Schönheiten, von denen sich Leo normalerweise angezogen fühlte. Von ihr ging eine besondere Kraft aus, was ihr wahrscheinlich selbst gar nicht bewusst war, diese Ausstrahlung gehörte einfach zu ihr. Die innere Energie wurde von ihren Augen widergespiegelt, mit denen sie Leo bis auf den Grund seiner Seele schauen konnte, wohin nicht einmal er selbst blicken konnte. Früher hatte er in einer Art Nebel gelebt, aus dem von Zeit zu Zeit schemenhaft vage Bilder und Wörter aufgetaucht waren. Seine konturlosen Gedanken hatten nur eine Leuchtquelle wie Viola gebraucht, um klarer und deutlicher zu werden.
Viola verfolgte Leos mühsame Jagd nach dem Ball, der ihm immer wieder abgenommen wurde. Er war der Jüngste in der Mannschaft, die größtenteils aus jungen Erwachsenen bestand, aber er schien der kreativste und flinkste Spieler zu sein, ihm genügte ein kurzer Blick, um die Position seiner Mitspieler zu erkennen und einen Spielzug zu planen. Und er war schneller, weil er seinen Rollstuhl besser beherrschte als die anderen. Ihm fehlte noch einiges an Technik, er machte viele Fehler, aber er lernte schnell, und er war ehrgeizig, das sah man an seinem wild entschlossenen Gesichtsausdruck, der Viola an einen Raubvogel im Sturzflug erinnerte.
Hin und wieder schnaubte Manlio, richtete sich auf, reckte die Arme in die Luft, schüttelte den Kopf, schlug sich mit der Hand aufs Knie, aber er hielt sich zurück und mischte sich nicht ein. Irgendwann sah er leicht beunruhigt
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