Ausgeweidet (German Edition)
noch etwas fahrig, und sehr erschöpft. Als Clemens sie an den morgigen Termin im Polizeipräsidium erinnert, nickt sie unmerklich und geht ohne ein weiteres Wort den kurzen Weg durch den Vorgarten. Kaum hat sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Haustür geöffnet, bricht ein Blitzlichtgewitter los. Maria stürzt aus dem Auto und rennt auf Senta Hartmann zu, die fassungslos zu den Fotografen auf der anderen Straßenseite hinüberblickt. Rasch fasst sie Senta an der Schulter, schiebt sie ins Haus und knallt die Tür zu. Auch Clemens ist losgelaufen, in Richtung Blitzlichter, doch die Fotografen sind schon ein gutes Stück entfernt. Kopfschüttelnd bleibt der Hauptkommissar stehen. Auch wenn er die letzten Jahre seine Fitness etwas vernachlässigt hat, ist er immer noch sportlich und keineswegs so schnell abzuhängen. Aber der Vorsprung ist zu groß. Er holt sein Handy aus der Manteltasche und ruft die Polizeiinspektion Nord an, sie ist zuständig für den Stadtteil Golzheim. Dann klingelt er bei Senta Hartmann. Kaum ist er eingetreten, kommt ihm ein quirliger Cairn-Terrier entgegengelaufen und springt an ihm hoch. Clemens begrüßt den Hund ausgiebig, er liebt Tiere und bedauert es sehr, keine Zeit für einen Hund zu haben.
»Darf ich vorstellen, das ist Rudi«, bemerkt Maria lächelnd.
»Nicht gerade ein Wachhund«, konstatiert Clemens und gibt Rudi einen letzten Klaps auf das Hinterteil.
Senta, die sich wieder etwas beruhigt hat, kommt aus dem Wohnzimmer. »Dürfen die das, einfach fotografieren?«
»Nein, natürlich nicht. Wenn Personen auf einem Foto erkennbar sind, ist eine Veröffentlichung ohne deren Zustimmung als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu verstehen und strafbar.« Clemens geht einige Schritte ins Wohnzimmer und schaut durch das große Fenster in den Garten. »Ich würde Ihnen raten, heute Nacht an allen Fenstern die Jalousien herunterzulassen. Sollte es an der Tür schellen, öffnen Sie erst, wenn Sie sicher sind, dass Sie die Person kennen. Und ich habe soeben veranlasst, dass jede halbe Stunde eine Streife an Ihrem Haus vorbeifährt und kontrolliert. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.«
Rudi begleitet die Beamten bis zur Tür und genießt es, von beiden nochmals gestreichelt zu werden.
Im Wagen herrscht Stille, es ist spät geworden.
Maria unterbricht Clemens’ nachdenkliches Schweigen. »Und was ist, wenn die Fotos morgen in den Boulevardmedien auftauchen?«
»Das glaube ich nicht, dazu war es schon zu spät. Aber wir müssen uns etwas einfallen lassen. Mönnekes soll morgen früh den persönlichen Kontakt zu den infrage kommenden Chefredakteuren aufnehmen.« Clemens schaut kurz zu Maria hinüber. »Du hast sie ja recht schnell beruhigen können.«
»Nun ja«, antwortet Maria einsilbig und schaut aus dem Fenster.
»Wie wirkte sie auf dich bei der Befragung?«
»Anfangs relativ gefasst, aber diese Entgleisung war wirklich bühnenreif. Ich kann das nur schwer einschätzen. Als Sängerin mit Schauspielausbildung könnte sie uns auch ganz gut etwas vormachen.«
Clemens überlegt. »Als sie den Toten das zweite Mal betrachtete, lag so viel Traurigkeit in ihren Augen, das war nicht vorgetäuscht.«
Maria wiegt leicht den Kopf hin und her, sie teilt die Einschätzung ihres Kollegen nicht.
Clemens schaut sie an. »Morgen fragen wir mal genauer nach, denn die Angaben zum Tagesablauf der Hartmann reichen nicht aus. Und wir sollten uns die Prozessakten ansehen.«
7.
Sonntagmorgen Polizeipräsidium. Für Maria und Clemens war die Nacht kurz. Auch Kommissar Hendrik Flemming sieht übermüdet aus. Lediglich Jochen Mönnekes scheint genügend Schlaf bekommen zu haben. Am großen Besprechungstisch nehmen alle mit ihren dampfenden Kaffeebechern Platz, nur Hendrik schlürft grünen Tee. Der Vegetarier, der ständig vor dem Computer sitzt und körperliche Bewegung kategorisch ablehnt, versucht, sich zum Ausgleich gesund zu ernähren. Trotzdem ist seine Blässe unübertroffen. Pia Cremer ist verhindert, möchte aber nach der Besprechung informiert werden. Schoeller und auf der Heide sind noch einmal zur Wohnung von Briest gefahren und kommen später dazu.
Kaum hat Clemens seine Eindrücke über die Befragung von Senta Hartmann mitgeteilt, wird die Tür aufgerissen, und Dr. Hummel steht, wie immer ohne anzuklopfen, im Raum. Der große, breitschultrige Gerichtsmediziner mit dem mittlerweile schütteren Haar grüßt freundlich, knallt seine Aktentasche auf den
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