Ausgeweidet (German Edition)
Tisch und schaut gespannt in die Runde. Clemens kann sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen, aber insgeheim bewundert er diese Effizienz, fast immer zu spät, aber nie versäumt Hummel seinen Einsatz. Clemens, der den Zeitdruck kennt, unter dem Dr. Hummel arbeitet, erteilt ihm sofort das Wort. Der Gerichtsmediziner holt Papiere aus seiner Tasche, drückt sie seinem Sitznachbarn Flemming in die Hand, erhebt sich und referiert frei die bisherigen Erkenntnisse. Ob er damit deutlich machen will, eigentlich schon auf dem Sprung zum nächsten Termin zu sein, oder ob er sich so besser konzentrieren kann, bleibt für alle ein Rätsel.
»Also, die Untersuchungen am Einschusskanal haben ergeben, dass über eine weite Distanz geschossen wurde, aus Richtung des Hochsitzes. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Kleinkalibergewehr. Die Patrone wurde mit einer Zange herausgenommen, das umgebende Gewebe mit einem Jagdmesser ausgeschält, sodass wir weder eine Patrone haben noch über das genaue Kaliber bisher eine Aussage treffen können.«
Dr. Hummel schaut in die Runde, hebt fragend die Augenbrauen und fährt fort: »Briest wurde mit einem Jagdmesser aufgebrochen und ausgenommen. Die Untersuchung des Gewebes und der Geweberänder hat ergeben, dass es eine feststehende Klinge von knapp zehn Zentimetern war, eine sogenannte ›Drop-Point-Klinge‹. Der Klingenrücken ist leicht konvex. Dadurch wird die Spitze annähernd in die Mitte gerückt, und dies ermöglicht ein präzises Arbeiten. Der ausgeprägte Bauch der Schneide gewährleistet einen effektiven, schnellen Schnitt. Den Brustkorb hat der Täter mit einer kleinen Rippenschere geöffnet, nahe am Brustbein vorbei. Er hat ihn ausgesprochen professionell ausgenommen, da hat niemand wie ein Berserker gewütet, sondern klar denkend, konzentriert gearbeitet. Und die Reste des organischen Innenlebens von Briest, zumindest das, was die Tiere davon noch übrig gelassen haben, lagen neben der Leiche.«
Maria, die dieses Mal den Job übernommen hat, Stichworte zu den Informationen auf Karteikarten zu schreiben und an die Präsentationswand zu heften, kommt leicht ins Schwitzen. Schließlich soll kein noch so geringer Hinweis verloren gehen.
»Gibt es darüber hinaus irgendetwas Besonderes über die Gerätschaften zu sagen, mit denen der Tote verstümmelt wurde?«
»Nein, Herr von Bühlow. Die Rippenschere ebenso wie die Zange sind Standardausführungen, wie sie in der Gerichtsmedizin oder in der Chirurgie verwendet werden.«
Clemens dreht sich zu Flemming um, der vor seinem aufgeklappten Laptop sitzt. »Hendrik, recherchier doch mal, ob Zange und Knochenschere bei den Jägern zur Ausrüstung gehören.«
»Habe ich gerade gemacht. Weder Zange noch Knochenschere gehören dazu.«
Maria meldet sich zu Wort und fragt nach der genauen zeitlichen Eingrenzung des Todeszeitpunktes.
»Die Idee mit dem forensischen Entomologen war nicht schlecht.« Hummel nickt Clemens kurz zu. »In Absprache mit der Oberstaatsanwältin habe ich den kleinen Dienstweg bemüht und einen befreundeten Kollegen angesprochen. Denn diese Disziplin ist eigentlich erst dann wirklich hilfreich, wenn eine Leiche schon länger irgendwo gelegen hat. Die Untersuchung der Insekten hat uns tatsächlich ein Stück weitergebracht. Die in der Leiche abgelegten Eier der Schmeißfliege hatten ihre erste Haut schon abgestreift. Das bedeutet, wir müssen gut vierzehn Stunden zurückrechnen, dann kommen wir auf neunzehn Uhr. Das begrenzt aber nur die Zeitspanne nach hinten, die sogenannte ›Leichenliegezeit‹, und die können wir uns auch logisch erklären. Im November beginnt es weit vor achtzehn Uhr zu dämmern. Um neunzehn Uhr dreißig ist es bereits dunkel. Und der Mörder wird wohl kaum in der Dunkelheit geschossen haben, wenn man die Entfernung bedenkt.«
Als Dr. Hummel die enttäuschten Gesichter der Kommissare sieht, setzt er lächelnd hinzu: »Aber es gibt ja auch noch andere Methoden. Die Obduktion hat die Ergebnisse der Untersuchung zum Todeszeitpunkt vor Ort bestätigt: Leichenflecken, Leichenstarre, die nicht mehr vorhandene Reaktion der Gesichtsmuskulatur, ebenso das Fehlen der Pupillenreaktion und die gemessene Körpertemperatur – das alles bestätigt ein Zeitfenster zwischen sechzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr.«
»Das ist doch mal eine klare Ansage. Mit dem Zeitfenster lässt sich arbeiten.« Clemens ist zufrieden mit der Aussage.
In diesem Moment schiebt sich Armin Schoeller vorsichtig durch die Tür.
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