Ausgeweidet (German Edition)
Treffpunkt.
»Die Bilker Straße nimmt aber auch kein Ende«, murmelt er vor sich hin. Unpünktlichkeit kann er nicht ausstehen. Auch wenn er sich sagt, ein paar Minuten zu spät ist nicht wirklich schlimm, empfindet er das als Respektlosigkeit gegenüber seinem Freund. ›Ja, ja, die Altlasten.‹ Seine Eltern sind früher immer zu spät gekommen. Das ging sogar so weit, dass sie von ihren Freunden manchmal eine Stunde eher eingeladen wurden als die anderen Gäste. Clemens muss lachen, als er sich erinnert, wie sie mal pünktlich waren und die Gastgeber noch unter der Dusche standen.
Endlich hat er die Destille erreicht und fühlt sich gleich wie zu Hause. Mindestens die Hälfte der Gäste kennt er, zumindest vom Sehen, grüßt kurz und steuert dann auf Alexander zu.
»Du siehst aber ganz schön abgehetzt aus.« Alexander sitzt wie immer am Tisch auf dem Podest, was für Clemens’ Geschmack zu sehr nach Präsentierteller aussieht. Aber man sitzt gleichzeitig etwas abseits, schließlich ist ihre Unterhaltung nicht für fremde Ohren bestimmt.
»Das war seit Tagen die einzige Chance, mal wieder den Kühlschrank zu bestücken«, erwidert Clemens und sinkt müde und hungrig auf den Stuhl.
»Wie wäre es mit Sülze und Bratkartoffeln?«, schlägt Alexander vor.
Clemens winkt ab. »Alles, bloß keine Sülze.« Die ist hier zwar vorzüglich, auch die Bratkartoffeln und vor allem die hausgemachte Remoulade und Aioli, aber er hat das schon so oft gegessen, dass es für ein ganzes Leben reicht. Er nimmt lieber einen Speckpfannkuchen.
Nach dem Essen berichtet Clemens Alexander kurz von den Ereignissen der letzten Tage und fasst seine Charakterisierung der beiden Täter zusammen. Alexander hört gespannt zu. Als Clemens seine Ausführungen beendet hat, lässt sich der Freund mit seiner Einschätzung Zeit. Clemens versucht, seine Neugierde zu verbergen, doch verrät ihn das Spiel mit dem Bierdeckel. Nachdem er ihn zerlegt und alle Schnipsel zu einem Haufen zusammengeschoben hat, beginnt Alexander.
»Ja, überzeugt mich. Bis auf den Weg der Selbstjustiz haben beide Täter nichts miteinander gemein. Der Mörder ist kaltblütig, der Entführer emotional. Der Mörder mag ein Gerechtigkeitsgefühl haben, setzt sich aber selbstherrlich über Werte hinweg. Er blendet sein Gewissen aus. Ganz anders der Entführer, er ist verzweifelt, kopflos, ihm scheint alles egal zu sein, zumindest was sein eigenes Leben betrifft. Auch mit der Einschätzung des Alters könntest du recht haben. Der Mörder ist eher über als unter fünfzig Jahre.«
Nach einem kurzen Schweigen fragt Alexander: »Wer gehört denn noch zum Kreis der Verdächtigen?«
»Lamberty ist raus, der hat ein Alibi, und seine wirtschaftliche Situation ist im grünen Bereich. Senta Hartmann hat nicht die Kraft und nicht die mentale Stärke für so einen eiskalten Mord. Mord im Affekt, das würde ich ihr schon zutrauen. Auch halte ich es für ausgeschlossen, dass Frau Hartmann den Mord in Auftrag gegeben hat. Bleiben nur Sieglinde Frank und Erika Wagner. Beide hätten die mentale Stärke, eine gewisse Abgebrühtheit und auch eine emotionale Verbindung. Diese scheint mir aber bei Erika Wagner ausgeprägter zu sein.«
»Komisch, dass man sich schwertut, einer alten Dame so eine Tat zuzutrauen.«
»Wie wahr. Und doch – seit Beginn geht mir die Wagner nicht aus dem Kopf«, erklärt Clemens.
»Wie steht es mit den Ermittlungen im Petit Salon?«, fragt Alexander nach.
»Ganz schwierig. Richtig weitergekommen sind wir da noch nicht. Aggressionspotenzial gegenüber Briest ist dort zur Genüge zu erkennen, aber wir sind noch weit davon entfernt, jemanden in Verdacht zu haben.«
Alexander denkt nach, Clemens lässt ihm Zeit.
»Könnte es sein, dass ihr über Erika Wagner und Sieglinde Frank noch zu wenig in Erfahrung gebracht habt? Wenn du von einer krankhaften Persönlichkeit ausgehst, scheint das nicht zu passen.«
»Zumindest Erika Wagner ist nicht die, die sie uns glauben machen will. Da brodelt es ganz gewaltig unter der Oberfläche. Und bisher ist nur ein kleiner Schimmer davon zu sehen gewesen«, hält Clemens dagegen.
Alexander schüttelt den Kopf. »Wenn du dich da mal nicht verrennst.«
20.
Freitag früher Nachmittag Polizeipräsidium. Der Hauptkommissar hat gerade seine Einkaufstüten abgestellt und hängt seinen Mantel auf, da steht schon Hendrik Flemming schmunzelnd im Türrahmen.
»Gibt es was Neues?«
»Kann man so sagen.«
»Dann her damit.«
Flemming,
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