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Ausgeweidet (German Edition)

Ausgeweidet (German Edition)

Titel: Ausgeweidet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Lamberts , Annette Reiter
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brauche.‹ Schnell überschlägt er, was in diesem Monat auf seinem Konto übrig bleibt und kommt frustriert zu dem Ergebnis, dass er sich den Skiurlaub mit Alexander im Januar nicht leisten kann. Etwas ungehalten fischt er eine Zigarette aus der Packung und zündet sie an. Nach zwei Zügen entspannt er sich. Kaum hat er den Tunnel hinter sich gelassen, löst sich der Stau auf. Nach gut vierzig Minuten hat er sein Ziel erreicht und stellt sein Auto vor der kleinen Einliegerwohnung von Briest am Rolanderweg ab. Langsam beginnt er dessen Laufstrecke abzugehen, so wie die bisherigen Erkenntnisse diese vermuten lassen. Die Sonne scheint, es ist etwas kühler als die Tage zuvor, und die Luft ist frisch. Er atmet ein paarmal tief durch und genießt die Bewegung.
    Immer wieder denkt er an die Leitsätze des Amerikaners, die er damals aufgesogen hat. ›Jeder Täter trifft eine Entscheidung, und diese Entscheidung bestimmt sein Handeln. Das Handeln hinterlässt Spuren, aus denen man auf das Verhalten des Täters schließen kann. Und dieses Verhalten ist die Grundlage, um ein Profil erstellen zu können.‹ Und wenn man Glück hat, beinhaltet das Profil neben den sozialen Umständen das Alter oder im Idealfall sogar den Charakter des Täters. Clemens ist inzwischen an der Stelle angekommen, an der Briest niedergeschossen wurde. Er geht den Tatort in aller Ruhe ab. Nichts erinnert mehr an die Kollegen der Spurensicherung. In der Nähe der Mulde setzt er sich auf einen Baumstumpf.
    Am Anfang steht der Entschluss zu töten, schreibt er in sein Notizbuch. Dann die Entscheidung wie und die Wahl des Tatortes. Die vierte Entscheidung, die er trifft, ist die, Briest auszuweiden, gefolgt von der Festlegung des Zeitpunktes. Was erzählt ihm der Tatort vom Täter? In der Fachliteratur heißt es, der Tatort sei der »Fingerabdruck vom Verhalten des Täters«. Ihm fallen Begriffe wie »präzise geplant« ein. Der Täter muss Briest über einen längeren Zeitraum beobachtet haben. Er hat nichts dem Zufall überlassen. Anzunehmen, dass er nervenstark ist, wahrscheinlich aber auch über Risikobereitschaft, Ruhe und Geduld verfügt und vielleicht auch über so etwas wie mechanisches Agieren, Ausblenden. Denn im Blutrausch befand sich der Mörder nicht, dazu war der Tatort zu sauber.
    Er erhebt sich und schaut in die Mulde. Der Täter hat das Opfer hingerichtet, das steht für Clemens außer Frage. Vorsichtig steigt er in die Mulde hinunter und blickt dann nach oben.
    Nur ein Spaziergänger, der direkt hier vorbeigekommen wäre, hätte ihn sehen können. Ansonsten ist die Mulde nicht einsehbar. Der Täter hat die Tat sorgfältig geplant, in der Ausführung war er sehr professionell, er muss über Fachwissen verfügen. Er muss sehr zornig gewesen sein, ohne dabei den Kopf zu verlieren. Eine Vergeltungstat. Die Abgeklärtheit und Gelassenheit sowie die überlegte Ausführung der Tat könnten, so vermutet von Bühlow, Hinweise darauf sein, dass es sich bei dem Täter um eine ältere Person handelt. Eine Person, die vieles einstecken musste, die vielleicht traumatisiert ist. Die Tat ist womöglich ein Befreiungsschlag, um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken.
    ›Depersonifizierung habe ich gegenüber Alexander ausgeschlossen‹, überlegt er. ›Vielleicht doch etwas voreilig, denn dies geschieht nicht immer bewusst. Das wiederum würde der systematischen Planung widersprechen. Nein, hier handelt es sich um das professionelle Aufbrechen, wie es bei der Jagd vonstatten geht. Davon lasse ich mich nicht abbringen. Doch was soll uns diese Inszenierung sagen? Der Knackpunkt ist die Art der Beziehung zwischen Täter und Opfer.‹ Clemens stutzt. Vielleicht geht es gar nicht um die Beziehung zwischen dem Mörder und dem Ermordeten, sondern um die Beziehung des Täters zu den Opfern des Toten? Oder es besteht gar keine Beziehung, dann war Briest zwar kein Zufallsopfer im herkömmlichen Sinne, sondern ihn hat es nur erwischt, weil sein Prozess so viel Aufsehen erregt hat.
    Clemens massiert sich die Schläfen. Dann schaut er sich erneut um auf der Suche nach einer Stelle, die es ihm ermöglicht, ohne schmutzig zu werden wieder nach oben zu gelangen. In der halben Stunde zurück durch den Wald versucht er, an andere Dinge zu denken. Er müsste eigentlich dringend seine Schwester anrufen, um zu erfahren, wann seine Eltern zurückkommen. Was hatte auf der Postkarte gestanden? Er holt sein Handy aus der Manteltasche und wählt die einprogrammierte

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